Die „Europäische Wissensgesellschaft“

Mit einer großen Podiumsdiskussion in Brüssel hat sich das Institut für Zeitgeschichte erstmals auch auf dem europäischen Parkett als Forum des wissenschaftlichen Diskurses präsentiert: „The European Knowledge Society – Genesis, Transformation, Perspectives“ lautete der Titel einer hochkarätig besetzten Abendveranstaltung, zu der das IfZ am 26. März gemeinsam mit der Leibniz-Gemeinschaft in die Bayerische Landesvertretung lud.

Seit rund zwei Jahrzehnten gilt die Vision einer „Wissensgesellschaft“ als ein zentrales Zukunftsprojekt der Europäischen Union. Es verspricht, die Herausforderungen der Globalisierung mit ihrem Wettbewerbsdruck und ihren neuen Unsicherheiten zu meistern. Dabei beeinflusst das Konzept die europäischen Gesellschaften zutiefst in ihren Kernbereichen, insbesondere in Kultur und Bildung, Arbeitsmarkt und Alltagsleben. Wo liegen die Wurzeln dieser Entwicklung? Sind die gesteckten Ziele erreicht worden? Welche Chancen und Probleme birgt das Konzept?

Angelika Schlunck, die Gastgeberin in der Vertretung des Freistaates Bayern, und Jean-Claude Burgelman, Mitglied des „Directorate General Research and Innovation“ der Europäischen Kommission, begrüßten die Gäste. In seiner Keynote „Knowledge Society and European Globalization Strategies“ zeigte IfZ-Direktor Andreas Wirsching die Genese des Konzepts der Wissens- oder „post-industriellen“ Gesellschaft auf und beleuchtete, inwieweit die Vision einer Gesellschaft, die durch die Förderung von Bildung und Forschung, technologischem Fortschritt und „Flexibilisierung“ gekennzeichnet sei, die europäischen Gesellschaften seit den 1980er Jahren prägte. Vor dem Hintergrund der Globalisierung, die als Herausforderung für Europa begriffen worden sei, habe das Konzept der Wissensgesellschaft insbesondere in der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik tiefe Spuren hinterlassen. Flexibilität, „life long learning“ und Wettbewerbsfähigkeit avancierten zu Signa eines neuen Verständnisses von Bildung, Forschung und Beschäftigung. Damit habe das Konzept zur Ökonomisierung von Bildung beigetragen, aber auch technokratische Tendenzen gefördert. Vor diesem Hintergrund warb Wirsching für eine selbstreflexive Dimension im europäischen Globalisierungsdiskurs.

Der Keynote folgte eine Diskussion mit einer international besetzten Expertenrunde, die von Karl-Heinz Paqué, Wirtschaftswissenschaftler und ehemals Finanzminister von Sachsen-Anhalt, moderiert wurde. Die Historikerin Jenny Andersson, die Politikwissenschaftlerin Dorota Dakowska, der Wissenschaftshistoriker Dominique Pestre und die Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak diskutierten die Ursprünge des Konzepts der „Wissensgesellschaft“, die Bedeutung der semantischen Dimension für konkrete gesellschaftliche und politische Entwicklungen und die Notwendigkeit, diese Wandlungsprozesse in einem selbstreflexiven Prozess zu analysieren. Dabei müsse der Fokus, hier waren sich die Experten einig, auf einer gesamteuropäischen Ebene liegen, also West- und Osteuropa gleichermaßen einbeziehen.

Nach dieser erfolgreichen Premiere in Brüssel plant das Institut für Zeitgeschichte, die Auseinandersetzung mit der Europäischen Wissensgesellschaft in einem europäischen Forschungsnetzwerk weiterzuverfolgen.



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