Call for Papers: Wozu Länder?

Praktiken der Sinnstiftung im föderalen Mehrebenensystem

Seit der Gründung des Kaiserreichs 1871 ist die verfassungsmäßige Grundordnung in Deutschland der Bundesstaat. Föderale Strukturen waren und sind ein Basiselement der politischen Kultur in Deutschland. Die Institutionen der Länder befinden sich dabei in einer Mittellage des administrativen Mehrebenensystems. Ihre Relevanz und Existenzberechtigung wurden mehrfach in Frage gestellt, denn ihr Status war weniger selbstevident als derjenige der zentralen Behörden und der lokal verankerten administrativen Vollzugsapparate. Ausgetragen wurden diese Auseinandersetzungen mit machtpolitischen, verfassungsrechtlichen, ökonomischen oder verwaltungslogischen Argumenten; nicht zuletzt dienten dabei historische Bezüge als Legitimationsgrundlage. Insgesamt waren Machtbefugnisse und territorialer Zuschnitt der Länder vergleichsweise volatil und disponibel. Mehrfach gerieten die Länder im Lauf des 20. Jahrhunderts in Bedrängnis. Eine Folge davon war, dass die Angehörigen von Länderinstanzen unter einem erhöhten Druck standen, ihre Zugehörigkeit und Tätigkeit zu rechtfertigen. Doch wie stark und in welcher Weise ordneten sich staatliche Akteure und ihre individuellen Angehörigen überhaupt einem Land zu? In vielen Verwaltungszweigen war eine klare Abgrenzung von Kompetenzen und Aufgaben gar nicht möglich. Fachlich gegliederte Verwaltungszweige entwickelten zudem eigene Organisationskulturen, die die Trennung nach Verwaltungsebenen überspannte. Und schließlich stellte die Affiliation zu einer Länderorganisation keine exklusive Quelle der Selbstpositionierung für ihre Angehörigen dar. Im Sinne der „jumping scales“ – damit ist gemeint, dass Machtverhältnisse in verschiedenen räumlichen Einheiten produziert und reproduziert werden, die an ein und demselben Ort genutzt und bespielt werden können – konnten sie auf unterschiedlichen Ebenen aktiv werden. Auch im Zeitverlauf war die Tätigkeit als Landesbeamter oder -abgeordneter keine zwingend auf Dauer gestellte Festlegung, vielmehr durchliefen die individuellen Karrieren nicht selten Stationen auf unterschiedlichen Ebenen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass „Praktiken der Sinnstiftung“ sowohl auf einer institutionellen Ebene als auch für den individuellen Karriereverlauf ein Schlüsselelement zum Aufbau von Anerkennung und Handlungsmacht darstellen. Im Mittelpunkt des Workshops stehen daher Formen der Produktion von Legitimation, Kompetenz und Relevanz: Wie stellten die Akteure Sinn her? Wie machten sie plausibel, wozu man eigentlich Länder braucht? Wie fügten sie sich in ihre Institutionen ein, insbesondere vor und nach den politischen Systemumbrüchen des 20. Jahrhunderts? Diese Fragen sollen insbesondere auf drei Handlungsfeldern verfolgt werden:

1. Dynamiken der Re- und Entsouveränisierung

Aus der Perspektive der Länder ist die staatliche Souveränität zentraler Bezugspunkt, Deutungsmuster und Handlungsanleitung. Vor allem die großen Zäsuren im 20. Jahrhundert, die einen Systemwechsel nach sich zogen, führten dazu, die Konkurrenz zwischen Zentrale und Länderhoheit neu auszutarieren. Charakteristisch für diese Auseinandersetzungen war, dass der jeweilige „Ort“ der Länder im jeweiligen politischen System stets auch eine stabilisierende und legitimatorische Funktion hatte. Dynamiken der Ent- bzw. der Resouveränisierung gaben den Aushandlungsprozessen um Ordnungsvorstellungen einen sehr konkreten Fokus. Praktiken der Sinnstiftung dienten dazu, institutionelle Einflussbereiche zu reklamieren oder Geltungsansprüche zurückzuweisen. Zugleich waren sie eine Ressource, um individuelle Berufsbiografien in einen kohärenten und akzeptablen Rahmen zu stellen. Häufig überlagerten sich dabei gegenläufige Entwicklungen. Ganz besonders augenfällig ist dies zwischen 1945 und 1949, als die Länder viele Funktionen, Zuständigkeiten und Rechte übernahmen, die sie in den Jahren zuvor hatten abgeben müssen. Zugleich waren sie jedoch der präzedenzlos umfassenden Kontrolle der Besatzungsverwaltung unterworfen. Solche gegensätzlichen Entwicklungen lassen sich indessen auch vor und nach diesem Zeitraum beobachten. Unter dem Stichwort(en) der Re- und Entsouveränisierung fragt der Workshop nach der Rolle und den Orten von Sinnstiftungspraktiken in den dynamischen Prozessen des Zugewinns und des Abbaus von Kompetenzen und Ressourcen. Wo traten sie als Gestaltungskraft für veränderte Rahmenbedingungen auf? An welcher Stelle produzierten territoriale und kompetenzbezogene Veränderungen erst eine veränderte Deutung der Länder?

2. Kulturelle Konstruktion von Loyalität und Konformität

Ein zentraler Bezugspunkt für individuelle wie institutionelle Sinnproduktion ist das Verhältnis zwischen Staat und Staatsdienern. Loyalität gegenüber dem Dienstherrn ist ein konstitutives Element des Beamtenverhältnisses. Der hervorstechendste Anzeiger des besonderen Verhältnisses zwischen Beamten und Staat ist der Eid. Daneben existierten zahlreiche weitere Formen, in denen die individuelle Konvergenz zum politischen System Ausdruck erhielt: dienstliche Beurteilungen, Formulare, in denen die spezifischen Anforderungen an die Beamten niedergelegt waren, Gesten und Praktiken, welche die Konformität mit dem politischen System performativ untermauerten. Während die politischen Systeme und damit die inhaltlichen Erwartungen an die Beamten sich stark wandelten, blieben die Formen dieser Sinnstiftungspraktiken im Verlauf des 20. Jahrhunderts erstaunlich konstant. Angesichts der wechselhaften Ländersouveränität fragt der Workshop nach länderspezifischen Praktiken, um Loyalität und Konformität zu untermauern. Welche Sinndeutungen waren mit ihnen über die Systemumbrüche hinweg verbunden? Welche Zwecke erfüllten sie jenseits ihrer unmittelbaren Bestimmung? In welchem Verhältnis standen formalisierte Akte zu nicht öffentlichen und informellen Praktiken?

3. Visualisierung und Repräsentation des Landes

Formen der Visualisierung und der Repräsentation sind spezifische Praktiken der Sinnstiftung. „Visualisierung“ meint dabei Praktiken und Strategien, die gesellschaftliche und politische Sinnkonstruktionen sichtbar und erlebbar machen. Visualisierungen sind meist symbolhaft, sie erfordern eine Interpretationsleistung des Subjektes. Repräsentation bedeutet die Vergegenwärtigung von nicht Anwesendem, entweder in symbolischer Form oder als persönlich vorgenommener Akt der Stellvertretung. Visualisierung und Repräsentation schlagen sich auf unterschiedlichen Ebenen nieder: sie materialisieren sich in der Architektur von Dienstgebäuden, in Staatsinsignien und in Landkarten. Sie bilden sich ab in symbolischen Gesten, die absichtsvoll Botschaften in den politischen Kommunikationsraum transportieren. Und sie offenbaren sich als kulturelle Codes, deren Beachtung und Kenntnis die Teilhabe an und Akzeptanz von politischen Ordnungsvorstellungen verbürgt. Eine Vielzahl von Visualisierungen offenbart den Staatsbezug im Alltag. Politische Umbrüche stellen die bis dahin geltenden Formen visuellen Repräsentation in Frage und erforderten Ausdrucksformen für Neuanfänge ebenso wie für das Bewahren von Traditionen. In Bezug auf die Länder stellt sich die Frage nach Unterschieden ebenso wie Gemeinsamkeiten von Visualisierungen und Repräsentationsstrategien. In welchem Stil waren etwa staatliche Gebäude gehalten, welche Symbole verwendeten sie und welche Bedeutungen legten sie nahe? Welche Referenzen und Korrespondenzen erschlossen materielle und symbolische Repräsentationen? Wie kamen sie zustande, wie funktionierten sie und wem nutzten sie? Welche Medien transportieren die sinnstiftenden Visualisierungen?

Die Veranstaltung wird per Zoom stattfinden, weshalb wir uns ein kreatives Format mit verstärkter Visualisierung für den mündlichen Vortrag (7 Minuten) wünschen. Daneben bitten wir um die Zusendung eines Working Papers als Textgrundlage für den Diskussionsbeitrag, welches vorab an alle Teilnehmenden verschickt wird. Die jeweils zweistündigen Panels finden im Zeitraum vom 17. bis 19. März 2021 statt. Interessierte Personen bitten wir, bis 10. Januar 2021 einen kurzen Abstract (max. 1800 Zeichen, inkl. Leerzeichen) sowie eine Kurzbiographie an gotto[at]ifz-muenchen.de zu senden. Das Working Paper (5–10 Seiten) sollte uns bis spätestens 10. März erreichen.



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