Fünf Fragen an...

…Franziska Nicolay-Fischbach

Über katholische Erziehung in Vereinen oder Heimen kursieren vielfältige Vorstellungen – bisher mangelte es aber an einer validen historiografischen Fundierung. Im Verlag De Gruyter Oldenbourg ist nun die breit angelegte Monografie „Erziehung zur ‚Sittlichkeit‘. Schutz und Ausgrenzung in der katholischen Jugendarbeit in Bayern 1918–1945“ erschienen. Erstmals untersucht diese Studie systematisch die katholische Jugendpflege und Jugendfürsorge in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am Beispiel Bayerns.

In unserem Interview „Fünf Fragen an …“ erläutert IfZ-Historikerin Franziska Nicolay-Fischbach, wie sie in ihrer Arbeit einen ganz besonderen Spannungsbogen zwischen Tradition und Moderne erkundet hat.

1. Ihr Buch haben Sie „Erziehung zur ‚Sittlichkeit‘“ genannt. Ist die „Sittlichkeit“ ein Begriff, den man grundsätzlich in Anführungszeichen setzen sollte?

Der Begriff der „Sittlichkeit“ ist ein fester Bestandteil der katholischen Moraltheologie. Eine zeitgenössische Definition im Lexikon für Theologie und Kirche (LThK) beschreibt „Sittlichkeit“ als die Gesinnung und Haltung eines Menschen in Bezug auf Gut und Böse. Aus dieser Perspektive erscheinen die Vorstellungen von „Sittlichkeit“ zunächst einmal unabänderlich zu jedem Zeitpunkt dieselben zu sein. Doch manifestierte sich im Sittlichkeitsdenken ein Werte- und Ordnungsdiskurs. Als Folge verdichteten sich unter dem diffusen Ideal der katholischen „Sittlichkeit“ traditionelle Ordnungsvorstellungen, die jedes davon abweichende Verhalten als „unsittlich“ charakterisierten. In diesem Wertekonzept von „Sittlichkeit“ eröffnete sich eine besondere Anfälligkeit der katholischen Jugendwohlfahrt für ein dichotomisches Ausgrenzungsdenken gegenüber diesen vermeintlich devianten Kindern und Jugendlichen, das sich unter dem Eindruck kulturpessimistisch interpretierter moderner gesellschaftlicher Entwicklungen weiter radikalisierte. Der besseren Lesbarkeit halber und weil eine Fülle von stigmatisierenden, aber schwer zu umschreibenden Begriffen in der Untersuchung auftauchen, habe ich nach einem Hinweis und der ersten Erwähnung in Anführungszeichen im Folgenden darauf verzichtet.

2. Autorität, Zucht und Gehorsam sind Schlagworte, mit denen Sie fortdauernde Leitlinien der katholischen Erziehungspraxis beschreiben. Wo verorten Sie den Ursprung dieses Denkens?

Den zeitlichen Ursprung dieses Denkens genau zu terminieren, erscheint mir sehr schwierig. Vorstellungen von Autorität, Zucht und Gehorsam sind ganz alt und schon Sokrates oder Platon beschwerten sich über den Mangel an Zucht oder Autorität gegenüber Eltern, Lehrern und anderen Autoritätspersonen. Interessanterweise nähert man sich den zeitgenössischen Vorstellungen dieser Begriffe, ähnlich wie bei der „Sittlichkeit“, wenn man die gegenteiligen Zuschreibungen untersucht. Damit geraten Kinder und Jugendliche und deren Beschreibungen in den Blick, die etwa als ungehorsam galten, aber genauso die Fälle, in denen Eltern und andere Erzieher das gängige Maß an Zucht und Ordnung beschrieben. Das Räsonieren darüber, wie Kinder zu erziehen seien, setzte zeitgleich mit der Entdeckung spezifischer Kindheits- und Jugendphasen und der Zuschreibung alterstypischer Merkmale um die Jahrhundertwende ein. Allerdings forderten schon seit der Aufklärung Reformer wie z. B. Rousseau eine kindorientierte Erziehung, ohne dass sich solche Konzepte durchgesetzt hätten.

Für die Untersuchung der katholischen Erziehungspraxis im Zeitraum von 1918 bis 1945 waren und blieben autoritäre wilhelminische Erziehungspraktiken maßgeblich prägend. Modernere Erziehungskonzepte etwa einer kindorientierten Erziehung und spezifischer Bildungsangebote an Kinder und Jugendliche, zum Beispiel nach Pestalozzi oder Montessori, konnten sich aber auch im katholischen Kindergartenwesen durchsetzen. Zucht und Strenge blieben dennoch weiterhin die bestimmenden Faktoren in der Erziehungsarbeit, begründeten aber gleichzeitig bei der Wahrnehmung schwindenden Gehorsams der Jugendlichen und allgemeinen Auflösungstendenzen zunehmend auch wissenschaftliche Methoden der Medizin und Psychologie. Strenge, Disziplin, Zucht, Gehorsam spielten milieuübergreifend im Ordnungsdenken sogar bis weit in die 1960er, in Bayern sogar länger, eine ganz bedeutende Rolle.

3. Sie betonen in Ihrer Arbeit die Kontinuitäten der katholischen Erziehungsarbeit über Epochengrenzen hinweg. Haben politische Systemwechsel diesen Bereich so wenig berührt?

Keineswegs blieb die katholische Jugendwohlfahrt unberührt von den Systemwechseln. Gerade die junge Republik rief unter katholischen Pädagogen, Erziehern und Fürsorgern größte Existenzängste hervor. Das bedeutete aber nicht, dass die politischen Veränderungen einen maßgeblichen Einfluss auf die praktische katholische Erziehungsarbeit gehabt hätten. Besonders überraschend wog die Feststellung, dass der expandierende Wohlfahrtsstaat keineswegs katholische Pädagogen und Erzieher verdrängte. Ganz im Gegenteil trieben die staatlichen Maßnahmen eine Professionalisierungs-, Vernetzungs- und Expandierungswelle im katholischen Erziehungswesen voran. Die Erziehungsmaximen nach katholischen Ordnungs- und Sittlichkeitsvorstellungen blieben dabei unberührt, obwohl sie sich im Zuge der allgemeinen Verwissenschaftlichung vermeintlich modernen Ansätzen nicht verwehren konnten. Erstaunlicherweise konnten sich die katholischen Jugendpfleger und Jugendfürsorger auch den nationalsozialistischen Repressionsversuchen weitgehend entziehen. Aber unter dem Einfluss der biologistischen und rassistischen Exklusions- und Vernichtungsstrategien der Nationalsozialisten radikalisierte sich die katholische Erziehungspraxis, vor allem in der Fürsorge. Dies war aber nur möglich, weil sich viele Anknüpfungspunkte und Schnittmengen gerade für das katholische Sittlichkeitsverständnis ergaben. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die vorhandenen Strukturen und Praktiken samt wilhelminischer autoritärer Erziehungstraditionen in der katholischen Jugendwohlfahrt durch die Systemwechsel hinweg bis in die Nachkriegszeit bestehen blieben.

4. Wie wirkte sich die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland und deren komplexes Verhältnis zur Kirche konkret auf die katholische Jugendarbeit aus?

Wo die großen Erziehungsparadigmen katholischer Jugendpfleger und -fürsorger unangetastet blieben, ergaben sich gleichzeitig strukturelle Veränderungen. Verheerend wirkte sich im März 1933 insbesondere die bischöfliche Kehrtwende gegenüber den neuen nationalsozialistischen Machthabern aus, die all ihre geäußerten Bedenken zurücknahmen. Gleichzeitig verließen sie sich auf die schließlich hohlen Lippenbekenntnisse, allen voran Hitlers, zur christlichen Religion. Einem vorauseilenden bischöflichen Gehorsam fielen dann auch die bayerischen katholischen Sport- und Jugendvereine zum Opfer, denn die Bischöfe und die Mehrheit des restlichen Klerus wollten lieber die ordentliche Seelsorge der gesamten Jugend in der Staatsjugend gesichert wissen – was sie natürlich nicht war. Dies bewirkte den Rückzug der katholischen Jugendarbeit in kirchliche Räume. Zudem stärkten diese Entwicklungen auch die Akzeptanz des Laienapostolats, sowie die Rolle der Frauen als Katechetinnen. Im Bereich der Jugendfürsorge kämpften die katholischen Erzieher nun vermehrt mit dem Stigma der „Minderwertigenfürsorge“, von dem sie sich vehement in Form von sprachlicher Radikalisierung und zunehmender Ausgrenzung zu befreien versuchten. Dazu gehörte schließlich die Schaffung von sogenannten „Werkheimen“, in denen als unerziehbar geltende Fürsorgezöglinge sowie arbeitslose Frauen verwahrt werden sollten. Dabei kam es zu vielfältigen Verflechtungen mit den nationalsozialistischen Organisationen und Machthabern, was wiederum den unbeschadeten Fortbestand katholischer Erziehungsarbeit auch während des Krieges sicherte.

5. Wenn heute über katholische Erziehung in der Vergangenheit gesprochen wird, geschieht dies meist mit Blick auf diverse Missbrauchsskandale, die die Kirche in der jüngeren Vergangenheit erschüttert haben. Wie kann die historische Forschung dabei helfen, diesen Teil der Geschichte der Kinderheime zu verstehen?

Die historische Aufarbeitung von kindgerichteter Gewalt und darüber hinaus von sexuellem Missbrauch steckt gerade noch in den Kinderschuhen. Das gilt ganz besonders für die Zeit vor 1945. Problematisch gestaltete sich aus historischer Sicht bisher, dass sich der katholische Aufklärungswille mit einigen wenigen Ausnahmen auf juristische Gutachten beschränkte. Dabei bleiben strukturelle Problematiken wie das Zölibat, besondere Gelegenheitsstrukturen wie geschlossene Institutionen oder aber der kirchlich-hierarchische Umgang mit Gewalt und Missbrauch unbeleuchtet. Obwohl meine Untersuchung nicht darauf abzielte, Fälle von Gewalt und sexuellem Missbrauch im katholischen Umfeld aufzuarbeiten, kam ich nicht daran vorbei. Und obwohl sich nicht viele Fallbeispiele rekonstruieren ließen, zeichneten sich doch bereits Strukturen und Muster ab. Dazu gehörten Vertuschungen, Versetzungen sowie der Schutz des Ansehens und der Autorität des Priesterstandes vor dem Opferschutz, um nur einige zu nennen. Die historische Forschung vermag also nicht nur solche Missstände aufzudecken, sondern darüber hinaus zu erklären, wie und warum über Jahrzehnte hinweg mit Gewaltexzessen und Missbrauchsfällen umgegangen wurde. Darüber hinaus wird deutlich, dass sich auch heute noch im Denken katholischer Verantwortlicher teilweise die Ansicht hält, dass es sich dabei um kircheninterne Angelegenheiten handelt, die auch als solche zu behandeln sind. Der großzügige uneingeschränkte Zugang der Forschung zu entsprechenden Unterlagen und Archiven – selbstverständlich unter Wahrung von Datenschutz- und Persönlichkeitsrechten – wären ein erster Schritt zur kirchlich-unabhängigen, historischen Aufarbeitung.

Die Autorin

Franziska Nicolay-Fischbach ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte München–Berlin. Ihre Dissertation entstand im Rahmen der „Kritischen Online-Edition der Tagebücher von Michael Kardinal von Faulhaber (1911–1952)“.

Franziska Nicolay-Fischbach: Erziehung zur "Sittlichkeit". Schutz und Ausgrenzung in der katholischen Jugendarbeit in Bayern 1918–1945. Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Band 130, De Gruyter Oldenbourg, Berlin 2022.



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