Das Deutsche Verkehrswesen

Kontinuitäten und Transformationen zwischen NS-Diktatur, SED-Herrschaft und demokratischem Neubeginn

Mit Hilfe der Reichsbahn führte das NS-Regime einen Angriffskrieg und deportierte Millionen Zwangsarbeiter und Juden in Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager. Zunächst im besetzten Gebiet und später im „Altreich“ kümmerte sich die Organisation Todt (OT) um das Verkehrsnetz und um den Bau wichtiger Rüstungs- und Verteidigungsanlagen.

Seit Juli 2019 untersucht das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin die Funktion und Bedeutung des Verkehrswesens im Herrschaftsgefüge des Nationalsozialismus (Projektleitung Magnus Brechtken und Andreas Wirsching, Projektkoordination Christian Packheiser). Neben dem Wirken des Reichsverkehrsministeriums (RVM) und der OT liegt der Fokus auf der Nachkriegsgeschichte der beiden deutschen Folgeministerien. Prozesse der Vergangenheitsbewältigung im Spannungsfeld aus gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Interessen werden ebenso untersucht, wie langfristige Entwicklungen. Daneben rückt mit Hans-Christoph Seebohm der erste Bundesverkehrsminister in das Zentrum des Interesses.

Zersplitterung der Hoheitsbereiche im NS-Staat

Ideologische Durchdringung durch institutionelle Segmentierung war ein zentrales Element des NS-Regierungsstils. Dieses Charakteristikum polykratischer Machtausübung kam auf dem Verkehrssektor besonders stark zum Tragen – durch die Auslagerung ganzer Ressorts oder der Übertragung unmittelbarer Befugnisse auf einzelne Personen. So wurde etwa Fritz Todt mit der Verantwortung für die Bereiche Straßenbau, Wasser und Energie betraut. Folglich interpretiert das vom Bundesverkehrsministerium finanzierte Projekt die analytische Dimension von „Infrastruktur“ primär unter dem Aspekt der Organisation von Herrschaft. Darüber hinaus wird deutlich, welch multifunktionaler Stellenwert dem Verkehr als gestalterisches Element politisch-administrativer Prozesse wie auch zentraler gesellschaftlicher Dynamiken zukommt.

Multiperspektivischer Ansatz

Gruppenbiografische Analysen und Karrierewege leitender Mitarbeiter stellen lediglich die Vorbedingung zur Betrachtung sachpolitischer Kontinuitäten und Brüche sowie behördenspezifischer Denk- und Funktionsweisen zwischen Diktatur und Demokratie dar. Ziel ist es, die Annäherung an das Ressort nicht nur anhand institutioneller Raster auszurichten, sondern um mentalitäts-, kultur- und sozialgeschichtliche Aspekte zu erweitern. Transformationen, Traditionslinien und Neujustierungen zwischen dem NS-Regime und dem Bundesverkehrsministerium (BVM) wie dem Ministerium für Verkehrswesen der DDR (MfV) werden umfassend erhellt.

Aufgrund der Einbindung in die politisch konkurrierenden Blöcke des Westens und des Ostens sowie der partiellen ideologischen Aufladung des Sachgebiets versprechen Vergleiche zwischen BVM und MfV hohen Erkenntnisgewinn. Hinter allem steht der Anspruch, das Verständnis für die Funktionsweisen von Diktaturen und der darin agierenden Behörden sowie für Demokratisierungsprozesse innerhalb der frühen Bundesrepublik zu erhöhen. Weiterhin soll ein Beitrag zur stärkeren Konturierung des durchaus umstrittenen Begriffs der „NS-Belastung“ geleistet werden.


Bildnachweise:

Titelbild: Archivbestand Institut für Zeitgeschichte, Foto Otto Croÿ, ED 1000, No. 19917

Bild 1: BArch , Bild 183-2004-1216-501

Bild 2: BArch ,  N 963 Bild-12-21A

Bild 3: BArch, DM 1/15090