Kommunikative Praktiken im Nationalsozialismus

Tagungsbericht einer digitalen Konferenz unter Beteiligung des INFOCOM-Teams

Am 24. und 25. Juni 2021 fand unter dem Titel „Kommunikative Praktiken im Nationalsozialismus“ die digitale Abschlusstagung der DFG-Projekte „Heterogene Widerstandskulturen. Sprachliche Praktiken des Sich-Widersetzens von 1933 bis 1945“ (Universität Paderborn, Leitung: Prof. Dr. Britt-Marie Schuster) und „Sprachliche Sozialgeschichte 1933 bis 1945“ (Leibniz-Institut für Deutsche Sprache, Mannheim, Leitung: Prof. Dr. Heidrun Kämper) statt. Der Tagungskonzeption ging es dabei um die Diversität sprachlicher Realitäten und Widerstandsformen im Nationalsozialismus. Dazu wurden die Vorträge in drei Sektionen aufgeteilt, die jeweils ein Impulsreferat einleitete. Wie Prof. Dr. Heidrun Kämper in ihrem einführenden Vortrag darstellte, sollte der Fokus dabei auf akteursorientierten Untersuchungen zu Kommunikationspraktiken in der „integrierten Gesellschaft“ des Nationalsozialismus, die sich von affinen bis dissidenten Verhaltensweisen erstreckte, liegen.

Dr. Friedrich Markewitz (Universität Paderborn) und Dr. Stefan Scholl (IDS-Mannheim) betonten hierzu in ihrer Einführung zur Sektion „Textkommunikation im ‚Dritten Reich‘“ die Bedeutung diskursiver Selbstverortungen in (Selbst-)Dokumenten, wie Tagebüchern, im Sinne der Zuschreibung oder Abwehr von „Soll- und Wunschidentitäten“. Diese Positionierung – eine „Sprachhandlung im Text“ – konnte sowohl der Selbstinklusion als auch der Selbstexklusion in die (Sprach-)Gemeinschaft dienen. In ihrem folgenden Vortrag wies Prof. Dr.  Christina Morina (Universität Bielefeld) auf ein anlaufendes, digital gestütztes Forschungsprojekt zur Rolle des Holocaust in Tagebüchern aus der Mehrheitsgesellschaft in insgesamt sechs Ländern hin (Deutschland, Frankreich, Italien, Niederlande, Polen, Österreich). Der gewählte Bystanding-Begriff verweist auf den Holocaust als interpersonaler Prozess: Die „role of Bystanding“, als Wahrnehmung und Verhaltensweise, soll in dem Projekt hinsichtlich relational-dynamischer, situativer, kontextabhängiger und ephemerer Faktoren untersucht werden. Tagebücher als Weltzeugnisse bieten hier auf explorativer Ebene auch einen Zugang zur Ereignisgeschichte des Holocaust. Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker (Technische Universität Dresden) widmete seinen Vortrag den sprachlichen Inszenierungen von Gemeinschaft im Fußballmagazin Kicker. In der Berichterstattung sollte die „Volksgemeinschaft“ sinnlich erfahrbar werden, genauso wie auch die Länderspiele selbst als „Erlebnistage“ inszeniert wurden. Die Bedeutung des „Andeutens“ und „Verrätselns“ vor dem Hintergrund der Zensur in Feldpostbriefen belegte Prof. Dr. Hajo Diekmannshenke (Universität Koblenz-Landau) in seinem Referat über Feldpostbriefe, in denen mit sprachlichen Mitteln individuelle kommunikative Handlungen vollzogen wurden.

Die zweite Sektion – „Leitkonzepte im ‚Dritten Reich‘“ – leitete ein Impulsreferat von Heidrun Kämper (IDS-Mannheim) und PD Dr. Nicole M. Wilk (Universität Paderborn) ein. Deutlich wurden hier die „akteursspezifischen Lesarten“ von Widerstand versus Propaganda als Diskursverdichtungen bzw. als „Re- und De-Semantisierungen“. Andreas Borsch (Universität Trier) untersuchte dazu die wirklichkeitsorganisierende Relevanz antisemitischer Topoi in Personenakten der Geheimen Staatspolizei. Als Sprechakte ermöglichen sie im Sinne kultureller Codes einen Einblick in Denkstil und Weltsicht antisemitischer Argumentationsmuster.

Der zweite Konferenztag war dem Thema der „sprachlich-kommunikativen Praktiken“ im „Dritten Reich“ gewidmet. Eröffnet wurde der Tag jedoch zunächst durch einen Exkurs-Vortrag zu lexikalen Kontinuitäten zwischen dem deutschen Kolonialismus und dem Nationalsozialismus, gehalten von Prof. Dr. Ingo Warnke (Universität Bremen) und Julia Nintemann (Universität Bremen). PD Dr. Nicole M. Wilk und Dr. Mark Dang-Anh stellten anschließend in einem Impulsreferat ihr Verständnis des Begriffs der „sprachlich-kommunikativen Praktiken“ vor und beschrieben dabei eine Reihe von für den Nationalsozialismus spezifischen Praktiken. Jun.-Prof. Dr. Bettina M. Bock (Universität Köln) sprach im Anschluss über Techniken des Beschönigens und Verdeckens in der seriellen Berichtsquelle der Meldungen aus dem Reich, für die sie eine Reihe von sprachlichen Strategien aufdeckte, die behördenintern zur Verschleierung der tatsächlichen Zustände dienten.

Anschließend hielten die beiden Teilnehmer des INFOCOM-Teams ihre Vorträge: Felix Berge stellte anhand einer Reihe von Beispielen informeller Gesprächssituationen –  festgehalten in privaten Aufzeichnungen sowie Ermittlungsakten und Geheimdienstberichten – zentrale Thesen seiner Forschung vor. Ein Blick auf die Auswirkungen, die derartige Kommunikationspraktiken auf die sozialen Abläufe und Hierarchien auf lokaler Ebene hatten, erlaubte dabei allgemeinere Schlüsse auf Fragen von Herrschaft und Gesellschaft im Nationalsozialismus. Manuel Mork führte in seinem Vortrag zum besetzten Frankreich während des Zweiten Weltkriegs zunächst in die kommunikationspolitische Situation des Landes zwischen 1939 und 1945 ein, um anschließend anhand zweier Beispiele die Wechselwirkung zwischen Berichterstattung einerseits und Erzählungen der informellen Sphäre andererseits zu demonstrieren. Die Fragen, die im Anschluss an die beiden Vorträge aus dem Plenum gestellt wurden, nahmen eine linguistische Perspektive auf die Vortragsthemen ein.

Am Nachmittag des zweiten Tages wurden zwei weitere Vorträge gehalten: PD Dr. Nina-Maria Klug (Universität Vechta) stellte die Methode der multimodalen Analyse vor, die sie exemplarisch anhand der Untersuchung einer NS-Frauenzeitung und der doppelten Interpretation von Texten und Bildern vorführte. Abschließend zeigte Lena Haase (Universität Trier) in ihrem Vortrag auf, wie sich die Wahrnehmung des Juristen während des Nationalsozialismus sukzessiv wandelte, wobei die Berufsgruppe auch sprachlich neu gefasst wurde.

Abschließend verwiesen die Fragen, Diskussionen und Ausblicke der Tagung auf die Vorteile interdisziplinären Arbeitens, d.h. insbesondere die Schnittmengen und das Inspirationspotential zwischen Linguistik und Geschichtswissenschaft. Für die beiden Teilnehmenden von Seiten des INFOCOM Teams bedeutete dies vor allem, nachzuvollziehen, mit welchen Konzepten und methodischen Herangehensweisen die Linguistik sich sprachlichen Phänomen der Vergangenheit annähert und welches zusätzliche Erkenntnispotential hier liegt.