„Auswanderung der Flüchtlinge inclusive Eingeborener ins Ausland“

Kardinal Faulhabers Tagebuch aus dem Jahr 1947 geht online: Der anhaltende Zuzug der Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem Osten nach Bayern bereitet dem Erzbischof von München und Freising große Sorgen

München/Münster, 01.04.2020. Die Tagebücher des früheren Erzbischofs von München und Freising, Michael Kardinal von Faulhaber, die seit 2015 in einer Online-Edition zugänglich gemacht werden, sind um einen weiteren Jahrgang ergänzt worden: Auf der Seite www.faulhaber-edition.de hat das Forscherteam des Instituts für Zeitgeschichte München−Berlin und des Seminars für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der Universität Münster nun den Jahrgang 1947 freigeschaltet.

Auch zwei Jahre nach Ende des Weltkrieges herrschen dramatische Zeiten in Bayern, wie im spannenden Tagebuch 1947 nachzulesen ist. Angesichts der Wohnungsnot in den kriegszerstörten bayerischen Städten, der anhaltend schwierigen Versorgungslage der einheimischen Bevölkerung und unter konfessionellen Gesichtspunkten sieht der Münchner Erzbischof die stetige Zuwanderung aus den ehemaligen Ostgebieten nach Bayern äußerst kritisch. Mitte September kommt es zu einem Treffen Faulhabers mit dem früheren Reichskanzler Hans Luther. Wie den Aufzeichnungen Faulhabers zu entnehmen ist, besteht Einigkeit darüber, eine „geschlossene Auswanderung der Flüchtlinge inclusive Eingeborener ins Ausland, Canada zunächst – unter kirchlicher Führung“ anzustreben, um die „Überbevölkerung“ in den Griff zu bekommen, die es „unmöglich“ mache, „wieder in die Höhe zu kommen.“ Wenig später nimmt der Erzbischof Anstoß an der „Tanzwut der Flüchtlingsjugend“.

Daneben sieht er sich mit weiteren Problemen konfrontiert. Der Fall des Weihbischofs Anton Scharnagl, der schon 1946 nicht nur im Münchner Klerus für Aufregung gesorgt hatte, spitzt sich 1947 zu und wird zum Gegenstand der Presseberichterstattung. Um einer möglichen Verhaftung Scharnagls, der u.a. im Verdacht steht, für die Gestapo spioniert zu haben, durch die Polizei vorzubeugen, stellt Faulhaber ihn im Februar unter Hausarrest. Ebenso unerfreulich entwickelt sich das Verhältnis zur US-Besatzungsmacht, die Begünstigungen, die der katholischen Kirche aus dem Gesetz über die Bodenreform in Bayern erwachsen sind, rückgängig machen möchte und erbost ist über die Flut der „Persilscheine“, die kirchliche Würdenträger ausstellen, um die Politik der Entnazifizierung zu unterlaufen. Zudem sieht sich Faulhaber als führender Repräsentant des Katholizismus dem Vorwurf ausgesetzt, dass die Kirche sich in der NS-Zeit nicht an die Seite der Juden gestellt habe und es nun wieder unterlasse, dem grassierenden Antisemitismus vernehmbar entgegenzutreten. Sorgen um die Zukunft der Bekenntnisschule, die in Frage stehende Fortgeltung des Reichskonkordats von 1933 und die Furcht vor einem neuen Krieg belasten den gesundheitlich angeschlagenen Erzbischof zusätzlich.

 

Das Editionsprojekt

Michael Kardinal Faulhaber hat seit seiner Zeit als Bischof von Speyer Tagebuch geführt und darin seine Begegnungen mit Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten festgehalten. Diese Quelle wird im Projekt „Kritische Online-Edition der Tagebücher von Michael Kardinal von Faulhaber (1911-1952)“ wissenschaftlich aufbereitet und im Internet unter www.faulhaber-edition.de veröffentlicht. Bisher sind die Jahrgänge 1911-1919, 1933-1937 und 1945-1946 vollständig abrufbar. Die Einträge müssen dafür zunächst aus der Kurzschrift Gabelsberger übertragen werden, die heute nur noch wenige Experten entziffern können.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert das auf zwölf Jahre angelegte Vorhaben seit dem 1. Januar 2014. Im Projekt arbeiten Historikerinnen und Historiker, Theologen und ein Informatiker interdisziplinär zusammen. Geleitet wird es von dem Historiker Prof. Andreas Wirsching vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und dem Kirchenhistoriker Prof. Hubert Wolf von der Universität Münster. Kooperationspartner ist das Erzbischöfliche Archiv München, in dem die Tagebücher verwahrt werden. Die Edition wird insbesondere neue Beiträge zum Verhältnis von Religion und Politik und zum Umgang der katholischen Kirche mit totalitären Ideologien ermöglichen. Gleiches gilt für innovative Forschungen zur Theologie- und Kulturgeschichte, etwa mit Blick auf personelle Netzwerke, Frömmigkeitsformen, Kriegsdeutungen, Emotionen und Geschlechterrollen im Katholizismus oder die Beziehungen zu anderen Glaubensgemeinschaften.