"...und die Zeit meines Todes ist nahe"

Kardinal Faulhabers Tagebuch aus dem Jahr 1948 geht online: Gepeinigt von Todesahnungen stellt sich der im 80. Lebensjahr stehende Erzbischof von München und Freising den mannigfachen Herausforderungen der frühen Nachkriegszeit in Bayern
 

München/Münster, 8.9.2020. Die Tagebücher des früheren Erzbischofs von München und Freising, Michael Kardinal von Faulhaber, die seit 2015 in einer Online-Edition zugänglich gemacht werden, sind um einen weiteren Jahrgang ergänzt worden: Auf der Seite www.faulhaber-edition.de hat das Forscherteam des Instituts für Zeitgeschichte München−Berlin und des Seminars für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der Universität Münster nun den Jahrgang 1948 freigeschaltet.

Im Tagebuch 1948 präsentiert sich ein gesundheitlich angeschlagener Michael von Faulhaber, der im Bündnis mit dem bayerischen Klerus und Kultusminister Alois Hundhammer über das ganze Jahr hinweg einen zähen und letztlich überwiegend erfolgreichen Abwehrkampf gegen die Schulreformpläne der US-amerikanischen Besatzungsmacht führt. Entsetzt zeigt sich der Erzbischof über die fortgesetzten Hinrichtungen zum Tode verurteilter Kriegsverbrecher und kündigt eine Intervention bei US-Präsident Harry Truman an. Unstimmigkeiten mit den US-Behörden bestehen zu Beginn des Jahres ebenfalls in der Frage der Wiederzulassung konfessioneller bzw. interkonfessioneller Gewerkschaften, wie es Faulhaber wünscht.

Schwer belastet ihn die „Causa Scharnagl“, der seit Jahren bestehende Verdacht, dass sein Weihbischof zum Schaden seiner Kirche in der NS-Zeit für die Gestapo gespitzelt habe. Die lang gehegte Hoffnung, ein Verfahren vor Gericht vermeiden zu können, erfüllt sich nicht. Am 21. September tritt Faulhaber als Zeuge vor der Spruchkammer auf. Der Prozess endet mit einem Freispruch für Anton Scharnagl, wie ein erleichterter Faulhaber umgehend an Papst Pius XII. schreibt. Sorgenvoll blickt der Erzbischof auf den ununterbrochenen Zuzug von Flüchtlingen aus dem Osten nach Bayern. Weil ihm eine Rückführung der Vertriebenen in ihre Heimat aussichtslos erscheint, befürwortet er deren Auswanderung nach Übersee. Eine dauerhafte Ansiedlung der Flüchtlinge hält er für „unmöglich, weil das Land bis an die Grenze bevölkert“ sei. Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln ist weiterhin schwierig, die Wohnungsnot groß.

Das zentrale Ereignis des Jahres, die Währungsreform vom 20. Juni, verbindet sich für Besucher Faulhabers mit der Erfahrung von Armut und Enteignung, findet aber nur selten Eingang in sein Tagebuch. Die wenige Tage später beginnende Blockade Westberlins durch die Sowjetunion ist ihm nur einen kurzen Eintrag wert. Keine Erwähnung findet der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, der im August tagt. Auch über die Existenz und die Aufgaben des Parlamentarischen Rates in Bonn zeigt sich Faulhaber im Herbst zunächst nicht orientiert, befürchtet dann aber, dass dessen Beschlüsse die Kulturhoheit der Länder beschneiden werden. Sein Augenmerk, so zeigt das Tagebuch 1948 deutlich, gilt seiner bayerischen Heimat.

Das Editionsprojekt

Michael Kardinal Faulhaber hat seit seiner Zeit als Bischof von Speyer Tagebuch geführt und darin seine Begegnungen mit Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten festgehalten. Diese Quelle wird im Projekt „Kritische Online-Edition der Tagebücher von Michael Kardinal von Faulhaber (1911-1952)“ wissenschaftlich aufbereitet und im Internet unter www.faulhaber-edition.de veröffentlicht. Bisher sind die Jahrgänge 1911-1919, 1933-1937 und 1945-1947 vollständig abrufbar. Die Einträge müssen dafür zunächst aus der Kurzschrift Gabelsberger übertragen werden, die heute nur noch wenige Experten entziffern können.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert das auf zwölf Jahre angelegte Vorhaben seit dem 1. Januar 2014. Im Projekt arbeiten Historikerinnen und Historiker, Theologen und ein Informatiker interdisziplinär zusammen. Geleitet wird es von dem Historiker Prof. Andreas Wirsching vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und dem Kirchenhistoriker Prof. Hubert Wolf von der Universität Münster. Kooperationspartner ist das Erzbischöfliche Archiv München, in dem die Tagebücher verwahrt werden. Die Edition wird insbesondere neue Beiträge zum Verhältnis von Religion und Politik und zum Umgang der katholischen Kirche mit totalitären Ideologien ermöglichen. Gleiches gilt für innovative Forschungen zur Theologie- und Kulturgeschichte, etwa mit Blick auf personelle Netzwerke, Frömmigkeitsformen, Kriegsdeutungen, Emotionen und Geschlechterrollen im Katholizismus oder die Beziehungen zu anderen Glaubensgemeinschaften.