Enttäuschung im 20. Jahrhundert

In einem gemeinsamen Workshop gingen das Institut für Zeitgeschichte (München) und die Ludwig-Maximilians-Universität (München), vertreten durch die Lehrstuhlinhaber MARGIT SZÖLLOSI-JANZE und MARTIN BAUMEISTER, einer Schlüsselerfahrung des letzten Jahrhunderts nach: „Enttäuschung[en] im 20. Jahrhundert“ wurden sowohl von ihren individuellen, als auch kollektiven Erfahrungs-, Wirkungs- und Bewältigungsprozessen exemplarisch untersucht. Im Vordergrund der Tagung standen dabei Fragen: Wie wird das Konzept der Enttäuschung als wissenschaftlicher Analysebegriff greifbar, wo lässt sich Enttäuschung verorten und welche Anpassungsleistungen und Bewältigungsstrategien können aus Enttäuschung entstehen? Die zweitägige Tagung gab zugleich den Startschuss für das gleichnamige Kooperationsprojekt zwischen Institut für Zeitgeschichte und der Ludwig-Maximilians-Universität für eine von der Leibniz-Gemeinschaft geförderte Graduate School.

Es sei notwendig, zwischen Enttäuschung in der umgangssprachlichen Verwendung sowie Enttäuschung als Quellenbegriff und analytische Einheit zu differenzieren, erklärte ANDREAS WIRSCHING (Institut für Zeitgeschichte) im Eröffnungsvortrag. Enttäuschung als Kategorie historischer Erfahrung finde ihren Platz in drei Forschungsrichtungen: In Anlehnung an Reinhart Kosellecks Dichotomie von Erwartungsraum und Erfahrungshorizont (1) stelle Enttäuschung ein spezifisches Muster des historischen Zeitverlaufs dar. Enttäuschung als kulturell geformter und somit wandelbares Gefühl lasse sich zweitens in die neueren Forschungen der Emotionsgeschichte einreihen und schließlich könne der Ausdruck und die Bewältigung von Enttäuschungen drittens zu einer Geschichte der sozialen Kommunikationsräume beisteuern.

Die Tagungsbeiträge begannen mit einem Blick auf „Neuanfänge und Enttäuschung“, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Frankreich, Ostdeutschland und der Sowjetunion hervortrat. ROBERT DALE (University of York) eröffnete die Sektion mit seinem Beitrag zur Demobilisierung und Enttäuschung von sowjetischen Soldaten am Beispiel Leningrad. Er erklärte beispielhaft an Wohnungsmangel und Arbeitslosigkeit, wie die paradiesähnlichen Hoffnungen der Soldaten auf ein besseres Leben und Anerkennung nach dem Krieg enttäuscht wurden. Die Schwierigkeiten der Soldaten, sich in der veränderten Umgebung wieder einzufinden, und die daraus resultierenden Enttäuschungen mündeten oft in Resignation, Alkoholismus und Selbstmord. Dies zog sowohl individuelle Konsequenzen als auch langfristige Folgen für das System der Sowjetunion nach sich. Die Reformen der 1960er Jahre seien späte Wiedergutmachungen für die in der Demobilisierungsphase entstandenen Enttäuschungen. Auch die Analyse zu Frankreich von CHRISTIANE KOHSER-SPOHN (Birkenwerder) befasste sich mit Enttäuschungen, die sich aus veränderten politischen Strukturen ergaben. Sie ging der Frage nach, inwieweit Enttäuschung ein Nationsempfinden beeinflussen kann. Am Beispiel der „Épuration“ im Elsass zeigte sie, wie die Entnazifizierungsmaßnahmen der französischen Behörden kollektive Enttäuschung der elsässischen Bevölkerung hervorriefen. Den Boden dafür hatte bereits die Wiederangliederung des Elsass an Frankreich 1918 bereitet. Die als besonders hart empfundene Épuration gegenüber den elsässischen Bewohnerinnen und Bewohnern verletzte deren Gerechtigkeitsempfinden nachhaltig. Kohser-Spohn verdeutlichte, dass diese Gefühlslagen die pro-europäische Haltung und das Selbstverständnis des Elsass’ als Brücke zwischen Frankreich und Deutschland stark befördert habe. RICHARD BESSEL (University of York) führte in seinem Vortrag am Beispiel der Stadt Stettin vor, wie die großen Hoffnungen der Kommunisten in den von der Sowjetunion besetzten Gebieten, an der politischen Neugestaltung Deutschlands aktiv mitzuwirken, von den russischen Besatzern enttäuscht wurden. Er konstatierte bei den Kommunisten eine doppelte Enttäuschung, die ihnen zum einen das Verhalten der sowjetische Besatzer, zum anderen die Reserviertheit der deutschen Bevölkerung bereitet habe. Doch entgegen derDie Enttäuschung der Kommunisten über die weitverbreitete politischen Gleichgültigkeit habe jedoch nicht zur Abwendung von der Ideologie, sondern zu stärkerem ideologischen Engagement und mehr Repression geführt. Die übergangenen und unterdrückten Enttäuschungen, die in den Kommunisten nach 1945 entstanden seien, bildeten laut Bessel die Kontinuität zur späteren Akzeptanz eines scheinbar real existierenden Sozialismus in der DDR.

NIKOLAI WEHRS (Zentrum für Zeithistorische Forschung) verlagerte mit seinem Beitrag den Blick von der Nachkriegszeit auf die Reformzeit der 1960er und 1970er Jahre. Am Beispiel der reformskeptischen Professorengemeinschaft „Bund Freiheit der Wissenschaft“ (BFW) analysierte er die sogenannte „Tendenzwende“ in der Hochschulpolitik der BRD. Anstatt die sozioökonomische Krise in den Vordergrund zu stellen, begriff Wehrs den politisch-kulturellen Mentalitätswandel der 1970er Jahre als historischen Prozess. Demnach sei 1973 die Fortschrittsgewissheit nicht plötzlich abgebrochen. Vielmehr sei ihr eine mehrjährige Phase vorausgangen, in der der Reformoptimismus tiefgreifend erschüttert worden sei. Er skizzierte anhand der Geschichte des BFW, dass sich vor allem die durchaus liberale, jüngere Professorengeneration von den Irrwegen der studentischen Jugend und dem Versagen der staatlichen Hochschulpolitik enttäuscht gesehen habe. Das Ziel des Zusammenschlusses im BFW habe darin bestanden, die außeruniversitäre Öffentlichkeit anzusprechen. Am Beispiel des BFW lasse sich zeigen, dass Enttäuschung nicht in Resignation umschlagen müsse, sondern zur Aktion geradezu nötigen könne. BERNHARD GOTTO (Institut für Zeitgeschichte) richtete seinen Blick auf die Enttäuschungen während der sozialliberalen Koalition (1969-1981). Mit Willy Brandts Regierungserklärung „Mehr Demokratie wagen“ hätten die hochgespannten Erwartungen der Deutschen ihren Gipfel erreicht. Gotto veranschaulichte am Beispiel der Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Großbetrieben, wie Hoffnungen zuerst in Ernüchterung und schließlich in Enttäuschung umgeschlagen seien. Deren Analyse zeige, welche Rolle emotionale Dispositionen im politischen Handeln spielten: Das Maß der Enttäuschung und der Modus der Enttäuschung gebe demnach Aufschluss darüber, welchen Stellenwert einem Thema zuvor zugemessen worden sei. Zum anderen sei demonstrative Empathie als Reaktion auf Enttäuschungsäußerungen oft wichtiger als konkrete Zugeständnisse in der Sache. Die Wirksamkeit von Enttäuschungsäußerungen habe zwar ihre Grenzen, könne aber sehr lange nachwirken, denn langfristig, so schlussfolgerte Gotto, habe der Utopieverlust der SPD-Wählerinnen und Wähler in den 1970er Jahren zur schleichenden Erosion der SPD als Volkspartei beigetragen.

Die folgende Sektion über „Modi der Enttäuschungsbewältigung“ widmete sich den verschiedenen Bewältigungsmustern, die aus dem vorgeführten Dreischritt Erwartung – Erfahrung – Enttäuschung resultieren. TIMO LEIMBACH (Max-Weber-Kolleg Erfurt) rief den Zuhörern die Novemberrevolution 1918 in die Erinnerung, die in der deutschen Erinnerungsgeschichte ein randständiges Dasein führe. Im Zentrum seiner Analyse lag die wechselhafte Forschungsrezeption der Revolution, die seiner Meinung nach ihre Wurzeln in der erinnerungspolitischen Zerstrittenheit der Politikerinnen und Politiker habe. Anhand der Memoirenzeugnisse von sechs Akteuren der äußeren Linke erläuterte er, wie enttäuschte Revolutionshoffnungen als zentrales Element dieser Auseinandersetzungen zu aggressiven Bewältigungsstrategien beigetragen habe, die sich ihrerseits auf die Forschungsrezeption ausgewirkt hätten. Während er bei den Kommunisten ein als „oberflächlich oder verschoben“ zu bezeichnendes Enttäuschungsmoment erkannte, das er vor allem auf die fehlende Identifikation mit der Revolution zurückführte, erklärte er die Enttäuschung der linkssozialistischen Akteure mit „authentisch geprägter Hoffnung“. Der nächste Vortrag blieb in der Zwischenkriegszeit, indem sich DANIELA GASTEIGER (LMU München) des konservativen Politikers Kuno von Westarp annahm. Sie skizzierte die Positionierungen des DNVP-Politikers zur parlamentarischen Demokratie und stellte die These auf, dass der Rückzug Westarps 1932 den Höhepunkt einer langjährigen Enttäuschungserfahrung darstelle. Statt Enttäuschung verwendete Gasteiger als Analysebegriff „Resignation“. Diese sei das Ergebnis des gescheiterten Versuchs Westarps gewesen, an der Monarchie als politischen Fluchtpunkt festzuhalten, zugleich aber Kompromisse einzugehen und positive Aufbauarbeit am republikanischen System Weimars zu leisten. Während Westarp Mitte der 1920er Jahre noch aus seiner Enttäuschung gelernt habe, herrsche 1932 nur noch Resignation vor, so resümierte Gasteiger. Abschließend untersuchte ALEXANDER LEISTNER (Universität Leipzig) die Veränderungen im Verhältnis von Erwartungen und Erfahrungen vor und nach der Wende 1989 am Beispiel der DDR-Friedensbewegung. Nach seiner Meinung lasse sich für die 1980er Jahren ein Erwartungsüberschuss feststellen, der dann nach 1989 in einen Enttäuschungsüberschuss umgeschlagen sei. Erklärungsbedürftig sei der Unterschied zwischen der stabilisierenden Wirkung von Enttäuschung für das politische Engagement auf der einen Seite, und deren desillusionierende Konsequenz auf der anderen Seite. Enttäuschungsbewältigung stehe demnach immer in Abhängigkeit von Erwartungen. Unterscheiden könne man dementsprechend zwischen „enttäuschungsgefasster Erwartungen“ und „enttäuschungsfester Erwartungen“.

ANNA BARBARA SUM (Freie Universität Berlin) eröffnete mit ihrem Vortrag zu Albert O. Hirschman die dritte Sektion „(Planungs-)Wissen und Enttäuschung“, die den Blickpunkt von Europa auf die Entwicklungsländer verlagerte. Als Experte für die Weltbank arbeitete der Ökonom an der wirtschaftlichen Entwicklungsplanung in Kolumbien mit. Anhand seines biographischen Beispiels verdeutlichte Sum, wie sich das Scheitern von Entwicklungsinitiativen und die daraus entstehenden Enttäuschungen auf die Theoriebildung Hirschmans auswirkten. Dabei legte sie den Fokus auf die Enttäuschung im Handeln von Hirschman und der Diskrepanz zwischen Erfahrung und Erwartung in seinen späteren theoretischen Abhandlungen. Sum schlussfolgerte, dass Enttäuschungen immer von der „persönlichen Nähe zu einem Thema“ abhängig seien: Hirschman sei als praktisch tätiger Entwicklungsexperte sowohl von der Funktionsweise der Arbeit in Kolumbien, als auch von seiner eigenen Wirkungslosigkeit enttäuscht worden. Dagegen könne sie in den 1970er Jahren beim Theoretiker Hirschman keine Enttäuschung über das allgemeine Scheitern der Entwicklungsinitiativen ausmachen. Nicht als Lern-, sondern als Kompensationsinstrument stellte MARIA DÖRNEMANN (Universität Tübingen) die analytische Kategorie von Enttäuschung dar. Am Beispiel internationaler Bevölkerungspolitik in Kenia beschrieb sie drei Ebenen der Enttäuschung: Ausgelöst durch die eigenen Resultate ebenso wie durch das Verhalten anderer lasse sich eine erste Ebene der individuellen und kollektiven Enttäuschung feststellen. In Abgrenzung dazu sei auf einer zweiten Ebene die Enttäuschung über strukturelle Gegebenheiten ausschlaggebend. Hingegen stehe auf einer dritten Enttäuschungsebene die Einsicht, dass sich die gesteckten Planziele als realitätsfern erwiesen hätten. Dörnemann legte ihrer Studie dabei einen sehr weit gefassten Quellenbegriff für Enttäuschung zu Grunde, der in erster Linie aus einer Rekonstruktion von Enttäuschungsmomenten im Bezug auf Zeitdimension, Mangel, Schwierigkeiten und unerfüllte Erwartungen erschließbar sei. Enttäuschung als Instrument des Wandels werde nach Meinung Dörnemanns darin sichtbar, dass enttäuschte Modernisierungserwartungen kompensiert worden seien und damit eine Überarbeitung der Programmentwürfe bewirkt hätten. Der abschließende Vortrag von CHRISTIANE BERTH (Universität St. Gallen) behandelte„Enttäuschte Revolutionshoffnungen, enttäuschte Konsumerwartungen“ am Beispiel Nicaraguas zwischen 1979 und 1995. Berth arbeitete drei Enttäuschungsmuster heraus, die sich in Nicaragua nach der Revolution 1979 entfaltet hätten: Zum ersten hätten sich Enttäuschungen über die ausgebliebene materiellen Verbesserung in großen Teilen der Bevölkerung verbreitet. Diese habe sich sowohl in alltäglicher Kritik, beispielsweise durch Beschwerdebriefe an Zeitungen, als auch in radikaleren Aktionsformen, wie Landbesetzungen und Streiks geäußert. Desweiteren legte Berth die Enttäuschung dar, die in Politikern, Planern und Experten angewachsen sei. Die sandinistische Führung habe sich durch die fehlende politische Partizipation und das Festhalten am alten Konsumverhalten durch die Bevölkerung Nicaraguas enttäuscht gefühlt. In einem dritten Punkt veranschaulichte sie am Beispiel der nicaraguanischen Atlantikküstenbevölkerung die Kombination aus Nostalgie und Enttäuschung und zeigte dabei, wie die Idealsierung einer bestimmten historischen Phase hohe Erwartungen aufwerfen könne, deren Unerreichbarkeit in Enttäuschung umgeschlagen sei.

Die prägnante Abschlussdiskussion am Ende der zweitägigen Tagung führte die Vorteile, aber auch die Schwierigkeiten von Enttäuschung als wissenschaftliche Analysekategorie zusammen. Dabei liege die Chance des Enttäuschungskonzepts gegenüber der Emotionsgeschichte vor allem darin, kontrafaktisch und akteursbezogen zu arbeiten. Ebenso lasse sie Platz für generationsgeschichtliche Ansätze. Vorsichtig sei vor allem mit der genauen Trennung zwischen Begriffen wie Enttäuschung, Empörung, Wut, umzugehen, aber auch eine zu starke Fixierung auf den Erfahrungsaspekt, der durch Prozesse wie Glaube und Engagement ersetzt werden könne, müsse vermieden werden. Am Ende der Tagung stand die Warnung vor einer zu monokausalen Anwendung, denn wie die Tagung selbst zeigte, besteht das Leben nicht nur aus Enttäuschungen.


(1) Reinhart Koselleck, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategiorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 349-375.


Programm

Andreas Wirsching (Institut für Zeitgeschichte): Enttäuschung als Grunderfahrung im 20. Jahrhundert

Panel 1: Neuanfänge und Enttäuschung
Robert Dale (University of York): Demobilization and Disappointment: Coming to Terms with the Realities of Post-war Life in Leningrad 1945-1950
Christiane Kohser-Spohn (Birkenwerder): Die Épuration im Elsass 1945: Die Enttäuschung als Vektor für die deutsch-französische Versöhnung?
Richard Bessel (University of York): Enttäuschung in der deutschen Linken 1945/46
Nikolai Wehrs (Zentrum für Zeithistorische Forschung): „Tendenzwende“ – Der Bund Freiheit der Wissenschaft (BFW) und das Ende des Reformoptimismus in der Bundesrepublik in den frühen 1970er Jahren
Bernhard Gotto (Institut für Zeitgeschichte): Utopieverlust und Neuverhandlung. Enttäuschung in der sozialliberalen Koalition

Panel 2: Modi der Enttäuschungsbewältigung
Timo Leimbach (Max-Weber-Kolleg Erfurt): Enttäuschte Revolutionshoffnungen und ihre aggressive Bewältigung: Diskursive Strategien von Verarbeitung und Mythenbildung sowie ihre langfristigen Auswirkungen auf Erinnerungskultur und historische Forschung
Daniela Gasteiger (LMU München): Kuno von Westarp (1864-1945). Enttäuschung im konservativen Erfahrungshorizont zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus
Alexander Leistner (Uni Leipzig): „Das ist ein fundamentaler Bruch in meinem Leben und in der Zeit“ – das Verhältnis von Engagement und Enttäuschung in sozialen Bewegungen

Panel 3: (Planungs-)Wissen und Enttäuschung
Anna Barbara Sum (FU Berlin): Enttäuschung über das Scheitern von Entwicklungshilfeprojekten bei Planungsexperten – das Beispiel Albert O. Hirschman
Maria Dörnemann (Uni Tübingen): Enttäuschte Modernisierungserwartungen: Das Beispiel internationaler Bevölkerungspolitik in Kenia
Christiane Berth (Uni St. Gallen): Enttäuschte Revolutionshoffnungen, enttäuschte Konsumerwartungen - Nicaragua zwischen Aufbruchsstimmung und Desillusionierung, 1979-1995



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