"Alltag im Holocaust"

Wie gestaltete sich Alltag im Angesicht von Verfolgung und Tod? Wie waren die Lebenswelten und Wahrnehmungen, Handlungsspielräume und Reaktionen – in Berlin, Wien oder im Ghetto Theresienstadt? Diese und andere Fragen der Alltagsgeschichte stellt ein neuer Aufsatzband, der in einer gemeinsamen Veranstaltung mit der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und dem Oldenbourg-Verlag im Institut für Zeitgeschichte diskutiert wurde.

 

Der Sammelband, den die beiden Herausgeberinnen Dr. Andrea Löw (Institut für Zeitgeschichte/Zentrum für Holocaust-Studien) und Prof. Dr. Doris L. Bergen (University of Toronto) im IfZ vorstellten, nimmt das jüdische Alltagsleben in den Blick. Die Verfolgten  erscheinen so als Mitglieder von Familien, Organisationen und Gemeinschaften, vor allem aber als handelnde Individuen, die eine Normalität in unnormalen Verhältnissen anstrebten. Mit der Abendveranstaltung lieferte gleichzeitig das neu eingerichtete Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte seinen öffentlichen Einstand, dessen neuer Leiter PD Dr. Frank Bajohr die Podiumsdiskussion moderierte.

Ein mehrfach angesprochenes Thema in der Diskussion war die mögliche Gefahr der Trivialisierung des Holocaust. Eng damit zusammen hing auch die Frage nach dem Titel des Aufsatzbands: Die Begriffsdiskrepanz zwischen „Alltag“ und „Holocaust“ sei enorm, so Bajohr – ginge es dabei also um die „Gewohnheit im Ungewöhnlichen“? Und handelte es sich nicht vielmehr um einen permanenten Ausnahmezustand, für den der Begriff „Alltag“ gänzlich falsch am Platz sei?

 

Die Sorge der Trivialisierung habe die Menschen bereits in den letzten Kriegsjahren umgetrieben, betonte Bergen. Jedoch lasse sich die Dynamik des Genozids mit den Methoden der Alltagsgeschichte erst verstehen. Darüber hinaus sei, wie etwa der Begriff „Endlösung“ illustriere, in der Sprache der Holocaust-Forschung der Tod oft bereits eingeschrieben, so die Wissenschaftlerin. Ein lebendiger Kontext der Vernichtungsmaschinerie könne nur durch die Alltagsgeschichte geschaffen werden. Löw ergänzte diese Ausführungen mit dem Hinweis, dass man die Personen, mit deren Geschichte und Schicksal man sich beschäftige, nur dann wirklich ernst nehme und als Menschen sehe, wenn man ihren Alltag in die Forschung mit einbeziehe. Schließlich hätten diese sich als handelnde Individuen bemüht, in einem andauernden Ausnahmezustand regelmäßige Strukturen zu schaffen, die Halt geben.

 

Die Alltagsgeschichte sei in der Holocaustforschung neben einer stärkeren Fokussierung der Opferperspektive ein wichtiger wissenschaftlicher Trend, der einen radikalen Perspektivenwechsel vollziehe und so das konkret Wirkliche sichtbar mache, befand Prof. Dr. Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte. Das neue internationale Zentrum für Holocaust-Studien stellte er als Ort innovativer Forschung vor, das sich als Kompetenz- und Kommunikationszentrum für die empirische Erschließung des Holocaust verstehe. Auch die bessere Verankerung des Holocaust in der akademischen Lehre ist eine zentrale Zielsetzung des neuen Projekts.

 

 

 



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