Fünf Fragen an...

…Magnus Brechtken

Druckfrisch ist im Wallstein Verlag der Sammelband „Aufarbeitung des Nationalsozialismus – Ein Kompendium“ erschienen. 30 namhafte Autorinnen und Autoren machen sich darin Gedanken über verschiedene Felder der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. „Eine breitere Übersicht zum Stand der NS-Forschung [...] findet man nirgends“, befand die Süddeutsche Zeitung in ihrer Rezension des Buches.

In unserem Interview „Fünf Fragen an …“ erläutert Magnus Brechtken, Herausgeber des Sammelbandes, die hinter der Veröffentlichung stehenden Gedanken.

1. Wie entstand die Idee zu diesem Sammelband?

Magnus Brechtken: Wer unterrichtet, sucht für Studierende immer nach guten Zusammenfassungen auf dem aktuellen Forschungsstand. So kann sich jeder und jede Interessierte rasch in ein Thema einarbeiten, daraus Seminar-Texte und Essays entwickeln. Oder sich einfach informieren, was Stand des Wissens ist. Ich unterrichte seit fast dreißig Jahren, gut zehn Jahre davon war ich in England, wo Einführungen besonders nachgefragt waren. Einen Band mit prägnanten Zusammenfassungen zur NS-Aufarbeitung habe ich immer vermisst, nun liegt er vor.

2. In dem Sammelband sprechen Sie bewusst von „Vergangenheitsaufarbeitung“ und verwenden nicht den lange Zeit vorherrschenden Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“. Wie grenzen Sie die beiden Begriffe voneinander ab?

Magnus Brechtken: Beim Begriff der Bewältigung schwingt mit, dass eine Aufgabe irgendwann erledigt, eben bewältigt ist. Vergangenheitsaufarbeitung dagegen meint den Prozess, die dauerhafte Aufgabe der Forschung. Wir analysieren und diskutieren, verarbeiten neue Quellen und versuchen veränderte Methoden, um besser zu verstehen. Das bleibt, auch wenn die historischen Gegenstände sich zeitlich weiter von uns entfernen. Aufarbeitung hilft uns also, den Wissensfundus stetig zu erweitern und immer neu zu reflektieren, um klarer zu sehen.   

3. Welche Phasen der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit sehen Sie?

Magnus Brechtken: In wenigen Sätzen: Zunächst sind äußere Faktoren wichtig. Die Alliierten und deutsche Emigranten analysieren die Ursachen des Nationalsozialismus schon während des Krieges. Danach spielen die Kriegsverbrecherprozesse eine bedeutende Rolle. Viele Deutsche wollen sich dagegen eher als Opfer eines totalitären Systems sehen, der Kalte Krieg half ihnen. Für die 1950er Jahre ist deshalb vom kommunikativen Beschweigen gesprochen worden. Alle wussten, was sie vor 1945 getan hatten, darüber konkret reden wollten die wenigsten, schon gar nicht über eigene Taten. Was gesprochen wurde, ist oft ein unbestimmtes Rauschen, ablenkend, sich heraus erzählend. In den 1960er und 1970er Jahren dominieren theoretisierende Analysemodelle, Stichworte sind Funktionalismus und Strukturalismus. Die großen Prozesse und das Fernsehen öffnen eine neue Dimension. In den 1980er Jahren werden Geschichtswerkstätten bedeutsam und es beginnt die konkrete Täterforschung. In den 1990er Jahren folgt die Diskussion um die „Volksgemeinschaft“, die mehr als zwei Jahrzehnte einflussreich ist. Parallel gibt es Wellen der Aufarbeitung in Unternehmen und Banken, dann Ministerien und ähnlichen Institutionen. In meiner Einleitung habe ich das ausführlicher skizziert. Die Beiträge im Band bieten vielfältige Details.

4. Wieso haben Sie sich für den Untertitel „Ein Kompendium“ entschieden und was bedeutet das für Sie?

Magnus Brechtken: Kompendium bedeutet, dass hier Beiträge versammelt sind, die je ein Thema konzentriert und verlässlich auf dem neuesten Forschungsstand zusammenfassen.  Zugleich ist damit angedeutet, dass hier keine Vollständigkeit behauptet wird. Der Band bietet Einblick in dreißig wichtige, zentrale Forschungsfelder. Weitere Themen – ich nenne mal Militärgeschichte, Verkehr und Infrastruktur, Architektur, die Rolle der Wissenschaften – bieten sich an. Kompendium bedeutet also: Dreißig Themen liegen vor, mehr sind möglich, auch ein weiterer Band.

5. In dem Sammelband finden sich auch Interviews mit dem Autor Timur Vermes („Er ist wieder da“) und dem Kabarettisten Thomas Pigor. Warum halten Sie eine Betrachtung der künstlerischen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit für gewinnbringend?

Magnus Brechtken: Kleinkunst, Kabarett und Literatur gehören unbedingt ins Bild. Stücke von Thomas Pigor  – ich nenne mal „Don’t look“ als Beispiel – habe ich in England regelmäßig mit Studierenden aus unterschiedlichsten Fächerkombinationen analysiert und diskutiert. Timur Vermes hat vorgeführt, wie sich Erschrecken und Humor literarisch so verbinden lassen, dass wir uns gleichzeitig unterhalten und innehalten. Thomas Pigor und Walter Moers haben das mit dem „Bonker“-Sketch ebenfalls für ein Millionen-Publikum sichtbar gemacht. Durch Kunst werden vielfältige Klischees und Gedanken sichtbar, über die man zu ernsthaften wissenschaftlichen Fragen gelangt. Unterhaltung ist ein legitimer Einstieg ins Denken und in der  künstlerischen Verdichtung oft ungemein anregend.     


Der Herausgeber

Magnus Brechtken ist stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin und außerplanmäßiger Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Die Autoren

Der Band versammelt Aufsätze von 30 Autorinnen und Autoren, darunter auch mehreren Wissenschaftlern aus dem IfZ. So haben Frank Bajohr, Frieder Günther, Dierk Hoffmann, Sven Keller, Michael Schwartz und Niels Weise Ausführungen zu ihren jeweiligen Spezialgebieten beigesteuert.
 

Magnus Brechtken (Hrsg.):
Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 720 Seiten, 21 Abbildungen, 34 Euro.