Fünf Fragen an...

...Matthias Peter

Wie sollte die Welt nach dem Ende des Kalten Kriegs aussehen? Im IfZ-Editionsprojekt „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“ ist nun der Jahrgang 1991 erschienen, in dem zentrale Quellen zu dieser Frage vorgestellt werden. Im Jahr Eins der Einheit standen für die deutsche Außenpolitik die Ausgestaltung Europas durch den Vertrag von Maastricht und ein Sicherheitssystem im Zentrum, das auch die Balance im Verhältnis zur zerfallenden UdSSR und den Staaten Mittel- und Osteuropas wahren sollte. Weitere Herausforderungen ergaben sich aus dem Golfkrieg und den Versuchen zur Eindämmung des Jugoslawienkonflikts.

In unserem Interviewformat „Fünf Fragen an…“ gibt Matthias Peter, Stellvertretender Abteilungsleiter der IfZ-Abteilung im Auswärtigen Amt und Mitbearbeiter des aktuellen Bandes, Einblick in eine Zeit, die vor allem von der Ungewissheit darüber geprägt war, welchen Lauf die Geschichte nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nehmen wird.

1. Bevor wir ins Jahr 1991 eintauchen: Woher kommen eigentlich die Akten, die in der Edition erscheinen, und wie werden sie ausgewählt?


Die IfZ-Abteilung, welche die Edition erstellt, arbeitet schon seit 1990 in den Räumen des Auswärtigen Amts (AA). Wir sind vertraglich gegenüber dem AA verpflichtet, jedes Jahr einen neuen Band mit Akten nach Ablauf der archivgesetzlichen Sperrfrist von dreißig Jahren vorzulegen, sind aber ansonsten wissenschaftlich frei. Wir folgen dabei dem Prinzip einer Fondsedition. Das heißt, wir wählen die Dokumente aus den Akten des Politischen Archivs des AA aus und dokumentieren damit dessen Politik. Wir ergänzen sie allerdings mit wichtigen Gesprächen des Bundeskanzlers mit auswärtigen Staats- und Regierungschefs sowie in Einzelfällen mit Dokumenten aus Sammlungen und Nachlässen hochrangiger Politiker und Diplomaten. Wir haben völlig freien Zugang zu allen AA-Akten, auf Grund unserer Sicherheitsüberprüfung auch zu sämtlichen sogenannten Verschlusssachen (VS) – also als geheim oder vertraulich eingestuften Dokumenten. Natürlich ist es nicht ganz einfach, aus tausenden von Aktenbänden eine sinnvolle Auswahl herauszufiltern. Deshalb gehen wir so vor, dass wir zunächst aus dem Material eine Sammlung geeigneter – und im Falle von VS zuvor offengelegter – Akten zusammenstellen. Aus diesem Material wählen wir anschließend die zu veröffentlichenden Stücke aus, je nach Jahr bis zu 450 Dokumente. Diese werden dann eingescannt oder abgeschrieben, eingerichtet und kommentiert.

2. Nun zu dem Band, den Sie zuletzt bearbeitet haben: Das Jahr 1991 war mit Blick auf das noch junge Ende des Kalten Krieges für die internationale Staatenwelt vor allem auch ein Jahr der Ungewissheit über den weiteren Lauf der Geschichte – wie spiegelt sich das in den Akten?


Im ersten Jahr nach der Wiedervereinigung und dem auf dem Pariser KSZE-Gipfel 1990 feierlich verkündeten Ende der Ost-West-Konfrontation war, wie unsere Dokumente zeigen, vieles im Fluss. Die Diplomatie war geprägt von Hoffnungen und Erwartungen, ja in vielen Bereichen von einer Aufbruchsstimmung. Denken Sie nur an die Gründung der Europäischen Union, einschließlich der Wirtschafts- und Währungsunion, deren Verträge auf dem EU-Gipfel im Dezember in Maastricht verabschiedet wurden. Zugleich stand die Beitrittsperspektive der mittelosteuropäischen Staaten zur EU auf der Tagesordnung, auch die Notwendigkeit zu einer Reform der NATO-Strategie und des Aufbaus einer neuen europäischen Sicherheitsstruktur unter Einbeziehung der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten. Es gab 1991 allerdings auch Krisenmomente, die eindrücklich zeigen, wie instabil die europäische Staatenwelt war. Einer dieser Momente war etwa der gescheiterte Putschversuch reaktionärer Kräfte im August in Moskau. Dieser löste in der Bundesregierung große Sorge aus, denn im Erfolgsfall hätte dies das Ende von Gorbatschows Reformkurs bedeutet, den die Bundesregierung mit großem politischen und materiellen Einsatz unterstützte. Vor allem der gerade erst begonnene Abzug der sowjetischen Truppen aus der ehemaligen DDR und die Fortsetzung der Abrüstungsbemühungen wären wieder in Frage gestellt worden.

3. In anderen Zusammenhängen standen die Zeichen ebenfalls nicht auf unbeschwertem Optimismus: 1991 ist auch das Jahr der sogenannten Operation „Wüstensturm“. Wie beschäftigte der von den USA geleitete Einsatz am Golf die deutsche Politik?


Die Militärintervention forderte die Bundesrepublik gleich auf mehrfache Weise heraus. Da sie militärisch nicht direkt beteiligt war, unterstützte sie die USA und Großbritannien mit beträchtlichen finanziellen Ausgleichszahlungen – der Beginn der später so genannten „Scheckbuchdiplomatie“. Zugleich löste der Golfkrieg, der ja auf der Basis einer Sicherheitsratsresolution der Vereinten Nationen (VN) erfolgte, eine Debatte über die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen einer Beteiligung der Bundeswehr an VN-Einsätzen aus. Und dahinter stand natürlich die Frage nach der künftigen Rolle Deutschlands in der internationalen Staatenwelt. Schließlich riss der Golfkrieg in Israel alte Wunden auf. Irakische Scud-Angriffe auf israelische Städte und die Drohung Saddam Husseins mit dem Einsatz chemischer Waffen verdüsterten im Kontext von Berichten über die Mithilfe deutscher Firmen beim Aufbau des irakischen Raketenarsenals das Deutschlandbild. „Deutsches Gas, deutsche Raketen“, fasste der deutsche Botschafter in Tel Aviv damals die Stimmung zusammen.

4. 1991 war aber auch in Europa ein Jahr des Krieges: Die Unruhen im jugoslawischen Vielvölkerstaat erreichten einen Höhepunkt. Kann man aus den Dokumenten ersehen, ob und wie Deutschland sich für eine friedliche Lösung engagiert hat?


1991 ging es ja zunächst um die Zukunft von Kroatien und Slowenien, die sich als erste aus dem jugoslawischen Staatenbund herauslösen wollten. Deutschland hat sich vor allem im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft, in zahlreichen Gesprächen mit den Beteiligten und durch Reisen ins Kriegsgebiet stark für eine friedliche, dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts folgende Lösung des Konflikts eingesetzt. Mit zunehmender Gewaltanwendung der serbisch dominierten Jugoslawischen Volksarmee wurde für Außenminister Genscher die Frage einer Anerkennung von Kroatien und Slowenien aber immer drängender. In dieser Rolle sah sich Deutschland allerdings auch vehementen und teils kruden Anschuldigungen der serbischen Politik und Öffentlichkeit ausgesetzt, wie etwa die Behauptung, die Deutschen verfolgten alte Kriegsziele und wollten ein „Viertes Reich“ errichten. Gerade an diesem Beispiel ist auch gut zu sehen, wie nachhaltig und wirkmächtig alte Geschichtsbilder sein können.

5. 1991 wurden viele Themen neu verhandelt, die auch für die heutige politische Situation wichtig sind – gibt es irgendetwas besonders Spannendes in diesem Zusammenhang? Was hat Sie am meisten überrascht?


In der Tat werden Nutzerinnen und Nutzer der Bände angesichts aktueller Entwicklungen so manches Déjà-vu-Erlebnis haben. Überrascht war ich etwa von dem schon 1991 angespannten ukrainisch-sowjetischen Verhältnis. Die Ukraine hatte sich nur drei Tage nach dem Ende des Putsches in Moskau für souverän erklärt, was die Frage nach ihrem Verhältnis zu einer künftigen Union bzw. Föderation aufwarf. Überrascht war ich aber auch vom Einsatz Kohls in Umweltfragen. Man hätte das vielleicht nicht vermutet, aber der Kanzler setzte sich bereits seit längerem im Rahmen der Weltwirtschaftsgipfel für Maßnahmen zum Schutz des Regenwalds ein und machte daraus auch einen Schwerpunkt seines Besuchs in Brasilien im Oktober 1991. Und nicht zuletzt: Die Dokumente machen deutlich, wie sehr das Verhältnis zwischen Kohl und Genscher abgekühlt war. Wer aufmerksam liest, wird feststellen: Der Bundeskanzler ließ das Auswärtige Amt über viele seiner Gespräche bewusst im Dunkeln.


Matthias Peter, Christoph Johannes Franzen und Tim Szatkowski (Bearbeiter)

Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1991

Berlin 2022

Der Befragte

Matthias Peter ist Stellvertretender Abteilungsleiter der IfZ-Abteilung im Auswärtigen Amt.




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