Wie kommunizierten „ganz normale Deutsche“ unter den Bedingungen von Krieg und Diktatur? Wie gelangten Menschen jenseits, aber auch im Zusammenspiel mit den offiziellen Angeboten des Regimes sowie der „Feindsender“ an Informationen? Welche Orte spielten eine Rolle, welche räumlichen Faktoren wirkten? Welche Akteure traten in Zeiten von Krise und Unsicherheit mit eigenen Deutungsangeboten auf? Wie verbreiteten sich dabei ihre subjektiven Interpretationen? Welche sozialen Dynamiken und Handlungsfolgen provozierten konstruierte Wirklichkeiten? Wie gingen Regimevertreter mit den Praktiken um oder bespielten die Dynamiken mit eigenen Angeboten?
Obwohl sie ein vielschichtiges Erkenntnispotential eröffnet, stellt die explizit kulturgeschichtliche Auseinandersetzung mit Kommunikationspraktiken wie Gerüchten in den Kriegsjahren 1939 bis 1945 nach wie vor ein Desiderat in der NS-Forschung dar. Dabei bietet informelle Kommunikation „von unten“ einen innovativen Zugang zur Kommunikations- und Sozialgeschichte des Nationalsozialismus und seiner Gesellschaft. Häufig beschränkte sich die Analyse informeller Kommunikation in der historischen Forschung jedoch auf eine undifferenzierte Feststellung, dass etwa ein „Gerücht in Windeseile durch das Reich lief.“ Doch Informationen, so die ausgehende Überlegung, „liefen“ nicht bloß durch das Reich, Gerüchte wurden nicht einfach nur „weitergegeben“ und Wissen tat mehr als „zirkulieren.“ Stattdessen wirkten nach Raum, Milieu und Zeit differenzierte, vielschichtige lokale Dynamiken. In der Arbeit soll daher nach den Praktiken von Akteuren sowie den kollektiven Funktionen und Folgen ihres Handelns gefragt werden. Um die gesellschaftlichen Wahrnehmungen im Kriegsverlauf zu analysieren, orientiert sich die Arbeit an konkreten sozialen Phänomenen, wodurch die Sammlung, Aneignung und Verbreitung von Informationen freigelegt werden.
Über die Untersuchung konkreter Ereignisse und Entwicklungen zeigen die Funktionen und Folgen des Hörens und Sprechens im Krieg, dass informelle Kommunikation die Gesellschaft vor Ort neu strukturieren und hierarchisieren konnte. Entgegen dominanter Interpretationen, etwa geprägt von volksgemeinschaftlichen Logiken der Inklusion und Exklusion sowie der Analyse typischer NS-Orte von Propaganda und Pogromen, werden soziale Gruppen und Räume diskutiert, die bisher nicht im Fokus der Forschung standen: Fernfahrer, die Gerüchte durch Pausenräume und über Verkehrswege trugen; Kinder, die vom frühmorgendlichen Milchholen als Erste die neusten Informationen mit nach Hause brachten; Hausfrauen, die sich regelmäßig beim Schlangestehen vor Lebensmittelläden über Neuigkeiten austauschten. Sie alle waren in kommunikativer Hinsicht keine bloßen Objekte: Ihr Handeln offenbart eine subjektive Deutung von Informationen im konkret besetzten lokalen Raum. Wer mehr wusste oder sich Informationen aneignen konnte, hatte dabei häufig Vorteile. Die soziale Praktik konnte die Gesellschaft so konstituieren und Informationshierarchien schaffen. Die informelle Kommunikation stand dabei dem nationalsozialistischen Anspruch auf ein Informationsmonopol entgegen. Daher soll auch diskutiert werden, wie das Regime nicht nur die „Gerüchtemacherei“ seiner „Volksgenossen“ bekämpfte, sondern auch begann, sich die Praktiken und Dynamiken in der Propagandaarbeit mit eigener Agenda anzueignen.
Die Quellenperspektive des Projektes ergibt sich zum einen aus der Rückspiegelung von Alltagsgesprächen oder Gerüchten in formeller Kommunikation, wie im nationalsozialistischen Berichtswesen sowie in Gerichtsverfahren, oder auf Organisationsebene in Ministeriumsüberlieferungen und Parteidokumenten, etwa zur Propaganda. Zum anderen generiert die private Sphäre direktere Bezüge zu informeller Kommunikation, so vor allem Ego-Dokumenten und persönliche Korrespondenzen (Tagebücher, Briefe). Die Lokalpresse und lokale Überlieferungen wie Chroniken spielen in der Untersuchung eine ebenso wichtige Rolle. Daneben sind auch Flugblätter sowie Radiopropaganda der Alliierten ein Zugang.