„Nach Osten“ - Das kurze Leben deutschsprachiger Juden nach ihrer Deportation ins besetzte Osteuropa

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (IfZ):  Prof. Dr. Andrea Löw
Projektinhalt:

Zwar sind die Deportationen deutscher und österreichischer Juden in das besetzte Polen, Weißrussland und das Baltikum inzwischen sehr gut erforscht: Wir wissen viel über die Vorgeschichte an den einzelnen Herkunftsorten, viele Biografien einzelner Deportierter wurden rekonstruiert, auch gibt es über die grausamen Zielorte inzwischen exzellente Studien.

Doch eine Gesamtgeschichte des kurzen Lebens deutschsprachiger Juden „im Osten“ steht noch aus. Wie waren die Erwartungen und Wahrnehmungen der jüdischen (oder als „jüdisch“ definierten) Männer, Frauen und Kinder, die aus Wien und zahlreichen Städten des „Altreichs“ in den Jahren seit 1939, vor allem Ende 1941 und im Jahr 1942, in das besetzte Polen, dann auch vor allem nach Minsk und Riga deportiert wurden? Wie schätzten sie nach dem Schock der Ankunft an den ihnen so fremden Orten ihre Situation ein? Wie nahmen sie die lokale Bevölkerung wahr und wie wurden sie umgekehrt von dieser gesehen?

Welche Einstellung schließlich hatten die lokalen deutschen Machthaber gegenüber denjenigen Juden, die ihnen doch, nicht zuletzt durch die gemeinsame Sprache, so viel vertrauter waren als die „Ostjuden“ vor Ort – und die sie trotzdem schließlich ermordeten. Überhaupt war Sprache von zentraler Bedeutung: Sie stellte einerseits eine Grenze zwischen den Deportierten und der lokalen Bevölkerung dar, andererseits einen Versuch der Orientierung, wenn beispielsweise in Riga die Straßen des Gettos nach den Herkunftsorten der Transporte benannt wurden.

Das Setting unterschied sich, je nachdem, ob jemand im Herbst 1939 in die Gegend um Nisko am San deportiert wurde, im Frühjahr 1940 oder Frühjahr 1941 in mehrere Ortschaften im Distrikt Lublin des sog. Generalgouvernements, oder ob die Deportierten direkt bei der Ankunft schon mit dem Massenmord konfrontiert waren, so wie in Minsk und Riga ab Ende 1941, wo mitunter Teile der lokalen Gettobevölkerung kurz vor der Ankunft der Deportationszüge erschossen worden waren, um Platz für die Neuankömmlinge zu schaffen. Diese zogen dann in die eben noch genutzten Wohnungen der Ermordeten ein. Welche Auswirkungen hatte diese Erfahrung auf die Selbstwahrnehmung und darauf, wie die wenigen Handlungsspielräume noch genutzt wurden? Wie unterschieden sich außerdem die Gewalterfahrungen und Überlebenschancen von Männern, Frauen und Kindern? Je nach Zeitpunkt und Deportationsziel spielten zudem innerjüdische Konflikte mit den zwangsweise eingesetzten jüdischen Funktionären eine große Rolle, die mitunter für die missliche Lage, in der die Deportierten sich befanden, verantwortlich gemacht wurden.

Raum und Zeit sind damit wichtige Kategorien in dieser Untersuchung, die den Anspruch hat, das kurze Leben der Deportierten „im Osten“ als zentrale Phase ihrer Verfolgungsgeschichte ernst zu nehmen und die damit verbundenen Erwartungen, Realitäten und Reaktionen zu beschreiben.

Soziale Prozesse und Dynamiken des Holocaust, die in den letzten Jahren in der Forschung eine immer größere Rolle spielten, werden im Projekt in einer integrierten Geschichte in den Blick genommen: Die Deportierten sahen sich in einem völlig neuen und unbekannten sozialen Umfeld und interagierten mit der lokalen jüdischen Bevölkerung, teilweise auch mit der nichtjüdischen Bevölkerung sowie mitunter auch mit den deutschen Machthabern vor Ort. Wie die Deportierten in diesem komplizierten sozialen Gefüge handelten und versuchten, Einfluss auf ihre Lage zu nehmen, soll in dieser Arbeit dargestellt werden.

 

Jüdinnen und Juden schauen aus dem Deportationszug im Bahnhof Bielefeld, 13. Dezember 1941, Yad Vashem Fotoarchiv, 5250/46



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