Vom Original zum Buchmanuskript

Marta Hillers bearbeitete ihre handschriftlichen Aufzeichnungen mindestens zwei Mal: beim Abtippen der Inhalte ihrer drei Hefte im Juli/August 1945 und bei der Vorbereitung der Buchfassung, vermutlich zu Beginn der 1950er Jahre.
Bereits beim Abtippen formulierte sie einige Passagen aus, verschob sie, fügte etwas hinzu oder verschleierte Angaben und Namen von Personen, die ihr nahe standen. Die Änderungen waren auf dieser ersten Bearbeitungsstufe noch minimal. Auf der Bearbeitungsstufe zum Buchmanuskript verarbeitete sie ihre Aufzeichnungen literarisch, anonymisierte und ergänzte sie konsequent. Es ist stellenweise ausgesprochen schwierig, die miteinander verschmolzenen Elemente und Versatzstücke zu dekonstruieren und das Authentische vom Literarischen zu unterscheiden, da die Umformung in mehreren Schritten erfolgte. Charakteristisch sind vor allem folgende Bearbeitungsmuster:

  1. Die Anonymisierung: Alle Namen, Ortsbezeichnungen und Berufsangaben sind verändert; selbst Rasse, Geschlecht und Name eines Hundes, die Stadtteile und Nummern von Verkehrsmitteln wurden geändert oder gelöscht. Ihre Person machte keine Ausnahme: Die Selbstbeschreibung als „blasse Blondine“ aus der Dachwohnung eines ehemaligen Kollegen, die spätestens nach Färberböcks Film aus dem Jahr 2008 das Gesicht der blonden Schauspielerin Nina Hoss bekam, hatte nichts mit der realen Marta Hillers zu tun. In Wirklichkeit war sie brünett und bezog vorübergehend das im oberen Geschoss gelegene Atelier ihres Geliebten Hans Hillers.
  2. Nachträgliche Ausformulierungen: Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zwischen Original und Buch stellt die nachträgliche Ausformulierung von Gedanken, Gefühlen und Beobachtungen dar, die Hillers in der handschriftlichen Fassung nur stichpunktartig oder gar nicht festgehalten hatte. Ausgerechnet jenen selbstreflexiven Passagen, die auf eine selbstbewusste und dem NS-Regime distanziert gegenüberstehende Autorin schließen lassen, erweisen sich oft als nachgeschobenes Produkt. Auch den starken feministischen Standpunkt mit der Kritik am universellen Charakter der sexuellen Gewalt gegen Frauen im Krieg, die Verhöhnung der bürgerlich-patriarchalischen Gesellschaftsordnung fügte Hillers in den größeren Passagen erst nach 1945 hinzu. Diese wertenden Ergänzungen haben allerdings zur Folge, dass die Gefühls- und Gedankenwelt der Autorin, auch im Hinblick auf die Rote Armee, im publizierten Tagebuch nicht mehr durchgehend authentisch sind. Hier bestätigt sich ein weiteres Mal, dass Urteile und Gefühle die unbeständigsten Elemente autobiografischen Schreibens darstellen. Sie unterliegen einem natürlichen Wandel und werden mit der Zeit bewusst oder unbewusst verformt bzw. verdrängt.
  3. Stilmittel: Das dritte Element des publizierten Buchs ist der Einbau von Stilmitteln, die den Schein der Gegenwärtigkeit, des erlebnisnahen Moments erzeugen sollen. Dazu gehören die Aussagen wie „während ich dies schreibe“ (S. 11), „Und nun sitze ich hier am Küchentisch […] und schreibe“ (S. 70) oder auch die angebliche "Tränenschmiere" auf den Notizen vom 29. Mai.
  4. Dramaturgische Aufladung des Textes mit fiktiven Elementen: Die erzähltechnischen Konstrukte, die sich teilweise der Nachkriegsnarrative bedienen, stellen wohl den größten Bruch zwischen Original und Buch dar. So griff Hillers auf das Bild des traumatisierten Ostfront-Heimkehrers zurück, der fremd blieb und kein Verständnis für das aufbringen konnte, was die Geliebte in seiner Abwesenheit erlitten hatte. Die wahre Geschichte ist viel weniger dramatisch. Hans (im Buch Gerd) kam nicht von der Ostfront, sondern aus dem Riesengebirge, wo er sechs Wochen lang als Kurgast „in Speck und Überfluss“ festhing und „an all dem Trubel“ vorbeirutschte (ED 934/4, Heft III, S. 67; weitere Beispiele sind im VfZ-Aufsatz zu finden).
  5. Die Korrektur von historischen Ereignissen ex post: Bereits beim ersten Abtippen der handschriftlichen Aufzeichnungen korrigierte Marta Hillers einzelne Stellen entsprechend den historischen Fakten. Diese Korrekturen gibt es an wenigen Stellen und sie betreffen Details, doch im Endeffekt sind diese korrigierten Aussagen nicht mehr authentisch. Als Beispiel seien die Einträge vom 30. April und vom 21. Mai genannt.
    Am 30. April notierte Hillers Gerüchte über den angeblichen Selbstmord von Hitler in der Hauptstadt der NSDAP-Bewegung in München und die Nachricht, Goebbels und Mussolini seien noch am Leben. Beim Abtippen ihrer Aufzeichnungen korrigierte sie diese Stelle entsprechend der historischen Fakten und ergänzte sie für die Buchpublikation noch zusätzlich. Diese nachträgliche Korrektur ist in doppelter Hinsicht verzerrend. Zum einen gehen dem Leser der Grad an Desinformation der Berliner Bevölkerung und die brodelnde Gerüchteküche verloren, die man noch dem Original entnehmen kann. Zum anderen hält die korrigierte Version ein Ereignis fest, das am 30. April noch gar nicht stattgefunden hatte: Goebbels beging erst einen Tag später zusammen mit seiner Frau Selbstmord, auch ihre sechs Kinder starben durch Gift.
    Ähnlich nachgearbeitet ist der Eintrag vom 21. Mai. Im Heft notierte Hillers an diesem Tag das Gerücht, Goebbels und seine Familie seien tot. Beim Abtippen der schriftlichen Aufzeichnungen ersetzte sie dann Goebbels in der Logik der korrigierten Einträge vom 30. April durch Himmler, den Hillers in Gefangenschaft wähnte (Goebbels hatte laut ihrer Korrektur ja bereits Selbstmord begangen) und streute zusätzlich Zweifel über Hitlers Schicksal.

Vergleich der Textfassungen des Eintrags vom 30. April 1945:

Tabellarische Übersicht

Vergleich der Textfassungen des Eintrags vom 21. Mai 1945:

Tabellarische Übersicht

Das publizierte Tagebuch stellt im Ergebnis eine Art zeithistorische Collage dar. Mehr als die Hälfte des Buches ist rein quantitativ nach dem Krieg entstanden. Aus quellenkritischer Perspektive ist die Publikation somit mitnichten ein Zeitdokument aus den letzten Kriegstagen, aber sehr wohl ein literarisiertes Zeugnis, verfasst von einer scharfsinnigen Beobachterin. Die nachträglichen Ergänzungen und Bearbeitungen stammen aus Marta Hillers' Feder und lassen sich auch als ein eigenes Zeitzeugnis der Nachkriegszeit interpretieren. Die historischen Ereignisse, die handelnden Personen, die sie teilweise mit einer soziologischen Präzision beschrieb, und vor allem ihr lakonischer Stil, die kühle Distanz und die grobe Sprache sind absolut authentisch.
Marta Hillers selbst stufte ihr Tagebuch übrigens als ein Dokument ein und sah darin „ein Mosaiksteinchen mehr für künftige Historiker“ (so fasste sie es in einem Brief an Kurt Marek am 2.7.1959 zusammen, ED 934-10).



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