Heft 1/2017

Aufsätze:

  • Dirk Blasius: Hans Rothfels und Carl Schmitt. Werkgeschichtliche Begegnungen in der Weimarer Republik. (A)
  • Maren Röger: Besatzungskinder in Polen. Nationalsozialistische Politik und Erfahrungen in der Volksrepublik. (A)
  • Claudia Moisel: Geschichte und Psychoanalyse. Zur Genese der Bindungstheorie von John Bowlby. (A)
  • Uwe Danker: Parlamentarische Kontinuitätsstudien zur NS-Zeit. Methodische Potenziale und Grenzen am Beispiel des Falls Schleswig-Holstein. (A)  

 


Abstracts

Dirk Blasius, Hans Rothfels und Carl Schmitt. Werkgeschichtliche Begegnungen in der Weimarer Republik
 

Der Beitrag erweitert die Perspektiven auf die Debatten über Hans Rothfels, indem er die Bedeutung von Rezensionen in der politischen und intellektuellen Kultur der Weimarer Republik in den Blick nimmt. Rothfels zeigte als Rezensent Interesse an Schmitts Publikationen (Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus – 1923/26; Politische Romantik – 1919/1925; Der Begriff des Politischen – 1927; Verfassungslehre – 1928). Rothfels’ Rezensionen sind kurze Essays, die eine eigene Position zum Weimarer Verfassungssystem aufzeigen. Sie verdeutlichen die Unterschiede zwischen den Positionen von Rothfels und Schmitt. Rothfels verweist auf das unvollständige Geschichtsverständnis und die Grenzen der juristischen Theorie in Schmitts Werken. In seinen Rezensionen folgte Rothfels Rudolf Smend (1882–1975) der anderen Autorität zur Jurisprudenz (Verfassung und Verfassungsrecht – 1928). Die Geschichte Preußens, und besonders Clausewitz, waren ein essenzieller Bestandteil von Carl Schmitts intellektueller Persönlichkeit. Rothfels „Carl von Clausewitz“ (1920) spielte eine wichtige Rolle in der Ausbildung von Schmitts politischer Orientierung. Nach 1945 verwendete Schmitt Rothfels’ preußische Geschichte. Schmitt und Smend lasen und kommentierten Rothfels „The German Opposition to Hitler. An Appraisal“ (1948). Während wir Smend mit einer noblen Geste an der Seite von Rothfels vorfinden, vermittelt Schmitt den Eindruck, er habe der preußischen Opposition gegen Hitler nahe gestanden.

 


Maren Röger, Besatzungskinder in Polen. Nationalsozialistische Politik und Erfahrungen in der Volksrepublik

 

Trotz des strikten Umgangsverbots kamen im besetzten Polen mehrere Tausend Besatzungskinder – Kinder von deutschen Okkupanten und einheimischen Frauen – zur Welt. Sofern die Behörden vom deutschen Vater überhaupt Kenntnis erhielten, entschieden die nationalsozialistischen Rassenplaner über das weitere Vorgehen. So wurden als rassisch wertvoll erachtete Kinder ihren polnischen Müttern weggenommen. Doch die immer stärkere Durchdringung des Rechts durch die Rassenideologie stärkte auch die Rechte unehelicher Kinder und ihrer Mütter. Im Fall der eingegliederten polnischen Gebiete, in denen das NS-Familienrecht übernommen wurde, führte das zu dem Paradox, dass trotz des Verbots sexueller Beziehungen zwischen Polinnen und Deutschen, die Väter auf Unterhalt verklagt werden konnten. Der Aufsatz fächert in einem ersten Schritt die Politik der NS-Besatzer gegenüber den Besatzungskindern auf, und fragt in einem zweiten Schritt nach den Maßnahmen, die dann der sozialistische Staat gegenüber den „Besatzungsmüttern“ ergriff. Überdies werden Erfahrungen der Besatzungskinder nach 1945 auf der Basis lebensgeschichtlicher Interviews rekonstruiert.

 

 


Claudia Moisel, Geschichte und Psychoanalyse. Zur Genese der Bindungstheorie von John Bowlby
 

Die Geschichte der Psychoanalyse sowie psychologisch-psychiatrische Expertendiskurse werden im angloamerikanischen Sprachraum gegenwärtig vielfältig erforscht, auch im Kontext der dezidiert interdisziplinär angelegten und rasch expandierenden „Childhood Studies“. Der Beitrag erläutert diese Zusammenhänge am Beispiel der laufenden Forschung zur Bindungstheorie des renommierten britischen Kinderpsychiaters John Bowlby. Bowlbys einflussreiche Studien über Heimkinder für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) etablieren in den fünfziger Jahren „Mutterentbehrung“ (Deprivation) als zentrale Analysekategorie der frühen Kindheit; sein eingängiges Erklärungsangebot zur Entstehung und Prävention psychischer Probleme entfaltete in der Familienpolitik große Wirkung. Der Beitrag verfolgt darüber hinaus das Ziel, das Verhältnis von Geschichte und den „Psychowissenschaften“ in zweifacher Hinsicht methodisch auszuloten, nämlich zum einen den Konstruktionscharakter psychologischer, psychiatrischer und psychoanalytischer Konzepte sichtbar zu machen, zum anderen Aufmerksamkeit zu generieren für eine Fülle zeithistorischer relevanter Quellen und Literatur, die in diesen Zusammenhängen entstanden ist, aber in der Forschung zu wenig Berücksichtigung findet.

 

 


Uwe Danker, Parlamentarische Kontinuitätsstudien zur NS-Zeit. Methodische Potenziale und Grenzen am Beispiel des Falls Schleswig-Holstein
 

Der Aufsatz stellt das Konzept und zentrale Ergebnisse der aktuellen Studie zu personellen und strukturellen Kontinuitäten nach 1945 im schleswig-holsteinischen Landtag vor. Anders als bei Institutionen mit beruflich und sozial homogenen Personalkörpern müssen Parlamentsstudien von erheblicher Heterogenität ihrer Untersuchungsgruppen ausgehen, Sinnfragen und Forschungsziele anders formulieren. Methodisch steht die Untersuchung für einen Mittelweg zwischen bloßer Listung von recherchierten Mitgliedschaften und biografischen Vollrecherchen: Zur Diskussion gestellt wird ein zweistufiges Modell von fünf „Grundorientierungen“, die die Angehörigen der Untersuchungsgruppe in generalisierten Grundhaltungen für ein (Über-)Leben im Nationalsozialismus erfassen, und daraus abgeleiteten „Typen“, die den wesentlichen Kern individueller Rollen in der NS-Zeit repräsentieren. So kann das Profil Schleswig-Holsteins differenzierter und feiner konturiert gezeichnet werden als in vorliegenden Parlamentsstudien. Im Ländervergleich erscheint Schleswig-Holstein als Sonderfall mit einem sehr hohen Grad formaler Belastungen. Die inhaltliche Analyse verknüpft Biografien mit vergangenheitspolitischem Handeln der Akteure: Selbst auf diesem einschlägigen politischen Feld war die Vorbiografie lediglich als ein Faktor unter mehreren, der Entscheidungen, Bekenntnisse und Debattenbeiträge steuerte. Populäre Vorannahmen über Korrelationen auf dieser Ebene gehen fehl.

 




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