Heft 3/2017

Aufsätze:

  • Benedikt Stuchtey: Zeitgeschichte und vergleichende Imperiengeschichte. Voraussetzungen und Wendepunkte in ihrer Beziehung. (A)
  • Guido Thiemeyer: Stiefkinder der Integration. Die Bundesländer und die Entstehung des europäischen Mehrebenensystems 1950 bis 1985. (A)
  • Thomas Hertfelder: Opfer, Täter, Demokraten. Über das Unbehagen an der Erinnerungskultur und die neue Meistererzählung der Demokratie in Deutschland. (Dis)
  • Jürgen John und Elke Scherstjanoi: „Perestrojka“ in der sowjetischen Besatzungspolitik 1947. Schlüsseldokumente zum Umbau der Militäradministration. (Dok)

 

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Abstracts

Benedikt Stuchtey, Zeitgeschichte und Imperialgeschichte. Wendepunkte der internationalen Forschung

 

Der Aufsatz widmet sich dem produktiven Spannungsverhältnis zwischen Zeitgeschichte und vergleichender Imperiengeschichte. Der Autor plädiert dafür, Imperialismen und Imperien als Analysekategorien mit zeithistorischer Relevanz zu verstehen. Er sieht in den Tendenzen der neueren Imperialismusforschung und insbesondere den Arbeitsergebnissen der New Imperial History das Potenzial, die Geschichte von Kolonialreichen mitsamt ihrer Dekolonisationen als Geschichte der transimperialen Zwischenräume zu schreiben. Schließlich wird auch die Frage gestellt, was das eigentlich „Europäische“ der europäischen Expansion gewesen ist.

 


Guido Thiemeyer, Stiefkinder der Integration. Die Bundesländer und die Entstehung des europäischen Mehrebenensystems 1950 bis 1985
 

Der Beitrag ist eine auf Archivalien beruhende Analyse der Auswirkungen der supranationalen europäischen Integration auf das föderale System der Bundesrepublik Deutschland. Das Grundgesetz von 1949 basierte auf einem politischen Gleichgewicht zwischen Bund und Ländern. Dieses Gleichgewicht wurde gestört, als die Bundesregierung im Rahmen der supranationalen europäischen Integration in den 1950er Jahren begann, Teile der nationalen Souveränität an europäische Organisationen zu delegieren. Die Regierungen der Länder entwickelten verschiedene Strategien, den damit verbundenen Verfassungswandel in der Bundesrepublik zu beeinflussen und ihre schleichende Entmachtung zu verhindern. Insgesamt geht es also um einen Aspekt der „Europäisierung“ der Bundesrepublik Deutschland und die Entstehung des so genannten europäischen Mehrebenensystems.
 

 


Thomas Hertfelder, Opfer, Täter, Demokraten. Über das Unbehagen an der Erinnerungskultur und die neue Meisterzählung der Demokratie in Deutschland
 

Seit den späten 1990er Jahren hat sich in Deutschland eine neue Meistererzählung der Demokratie herausgebildet, der die jüngeren Synthesen zur Geschichte der Bundesrepublik ebenso folgen wie eine Reihe nationaler Ausstellungs- und Gedenkstättenprojekte. Parallel dazu ist eine Debatte über das „Unbehagen an der Erinnerungskultur“ entbrannt, die das öffentliche Erinnern an die Verbrechen der NS-Diktatur in einer Sackgasse angelangt sieht. Thomas Hertfelder analysiert diese beiden Diskurse und verweist auf ihre Leistungen und  Leerstellen: Die Meistererzählung der Demokratie vermag unterschiedliche Deutungen der deutschen Zeitgeschichte nach 1945 zu integrieren und mithin ebenso unterschiedliche biografische und generationelle Erfahrungen aufzurufen – freilich um den Preis der Unterbelichtung solcher Momente, die mit dem Erfolgsnarrativ nur schwer in Einklang zu bringen sind. Die These vom „Unbehagen an der Erinnerungskultur“ hingegen bleibt auf die Shoah fixiert, sie thematisiert zu Recht den Umbruch, vor dem die öffentliche Erinnerung an die NS-Diktatur steht und kritisiert dabei eine stereotype Praxis öffentlichen Erinnerns – allerdings auf unzureichender empirischer Basis. Der Autor arbeitet die Spezifika der Diktatur- und der Demokratieerinnerung in Deutschland heraus, plädiert für eine Verklammerung beider Perspektiven und für eine stärkere Akzentuierung des Erinnerns an demokratische Traditionslinien in all ihrer Ambivalenz.
 

 


Jürgen John/Elke Scherstjanoi, „Perestrojka“ in der sowjetischen Besatzungspolitik 1947. Schlüsseldokumente zum Umbau der Militäradministration
 

Der weitgehend unbekannte Vortrag des Verwaltungschefs der Sowjetischen Militäradministration (SMA) Thüringens, Ivan S. Kolesničenko, vom 10. Januar 1947 markierte den Beginn des Übergangs vom militärisch zum politisch organisierten (freilich militärisch gesicherten) Besatzungsregime in der SBZ. Ausgangspunkt war die Ende 1946 gewonnene Erkenntnis, zur besseren Durchsetzung ursprünglicher Besatzungsziele, zu denen ein für alle Alliierten und für die Deutschen in den vier Besatzungszonen annehmbarer Friedensvertrag zählte, ein verändertes Verhältnis zur deutschen Seite aufbauen zu müssen. Dieser Übergang überschnitt sich mit den – historiografisch bis heute heftig umstrittenen – deutschlandpolitischen Weichenstellungen des Jahrs 1947. Der Vortrag Kolesničenkos (1907–1984), der als Stellvertreter für Zivilangelegenheiten 1945–1949 der politische Kopf der SMA Thüringens war, kann als ein Schlüsseldokument zur Geschichte der Sowjetischen Militäradministration Deutschlands (SMAD) und ihrer Besatzungspolitik gelten. Die Initiative war mit der SMAD-Spitze abgestimmt, die den Vortrag an die SMA-Verwaltungschefs der anderen Länder und Provinzen verschickte und ihm so zonalen Weisungscharakter verlieh. Der Vorstoß bezweckte veränderte „Arbeitsstile“, andere Organisationsformen, eine – ausdrücklich so genannte – „Perestrojka“ in Prinzipien, Methoden und Strukturen der Besatzungsherrschaft. Im Zentrum standen der Umbau des Kommandanturnetzes und die Stärkung politischer Lenkungsprozesse gegenüber deutschen Behörden, Landesregierungen und Landtagen. Das sollte auf dem Prinzip „Kontrolle statt Intervention“ beruhen. Dieses „Perestrojka“-Konzept beinhaltete keinen deutschlandpolitischen Strategiewandel, hatte aber maßgebliche Bedeutung für die weitere Besatzungspolitik.

 




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