Heft 3/2018
Aufsätze:
- Yossi Goldstein: Warum wurde nach dem Sechstagekrieg kein Friede erreicht? (A)
- Bastiaan Willems: Nachbeben des Totalen Kriegs. Der Rückzug der Wehrmacht durch Ostpreußen und seine Folgen. (A)
- Rüdiger Graf: Verhaltenssteuerung jenseits von Markt und Moral. Die umweltpolitische Regulierungsdiskussion in der Bundesrepublik Deutschland und den USA im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. (A)
- Malte König: „Geschichte ist machbar, Herr Nachbar!“ Die Umbenennung der Berliner Kochstraße in Rudi-Dutschke-Straße 2004 bis 2008. (A)
- Sören Eden / Henry Marx / Ulrike Schulz: Ganz normale Verwaltungen? Methodische Überlegungen zum Verhältnis von Individuum und Organisation am Beispiel des Reichsarbeitsministeriums 1919 bis 1945. (A)
Abstracts
Yossi Goldstein, Warum kam nach dem Sechstagekrieg kein Friedensvertrag zustande?
Im Sommer 1967, gleich nach dem umfassenden militärischen Sieg der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte über die arabischen Armeen im Sechstagekrieg, erwarteten viele israelischen Bürger und politischen Entscheidungsträger, dass dies die arabischen Anführer schnell an den Verhandlungstisch für eine Friedensregelung bringen würde. Die abweisenden Resolutionen des Vierten Gipfeltreffens der Arabischen Liga in Khartum im September 1967 zeigten deutlich, dass dies nicht der Fall sein würde. Der Aufsatz betrachtet den offensichtlichen Widerspruch zwischen der offiziell erklärten Bereitschaft der israelischen Regierung, den Großteil der besetzten Gebiete im Tausch gegen eine Friedensregelung zu räumen, einerseits und den gleichzeitigen Siedlungs- und Annexionsaktivitäten in diesen Gebieten andererseits, wobei der Schwerpunkt auf der Konsistenz der Bedingungen des israelischen Premierministers Levi Eshkol für eine Verständigung mit Israels arabischen Gegnern nach dem Krieg liegt. Basierend auf einer umfassenden historischen Analyse der Forschungsliteratur und der relevanten Archivalien aus dieser Zeit betont der Aufsatz die Wichtigkeit dieser Bedingungen – welche unter anderem direkte Verhandlungen mit den Anführern der fraglichen arabischen Länder, einen Ausschluss der Rückkehr zu den Vorkriegsgrenzen und die volle Anerkennung des Staates Israel durch die fraglichen Regierungen umfassten – um die Logik hinter Israels Position innenpolitischer und internationaler Position bis Eshkols Tod 1969 zu verstehen.
Bastiaan Willems, Nachbeben des Totalen Kriegs. Der Rückzug der Wehrmacht durch Ostpreußen und seine Folgen
Ab Sommer 1945, unmittelbar nach Ende der Kämpfe in Ostpreußen, verstarb ein großer Teil der dortigen Bevölkerung wegen des begrenzten Zugangs zu Lebensmitteln und anderer Basisressourcen. Die verbleibende deutsche Bevölkerung beschuldigte schnell die neuen sowjetischen Behörden; wenige beachteten die Rolle der Wehrmacht im Bezug auf ihr Elend. Die deutschen Einheiten, die mit der Verteidigung Ostpreußens beauftragt worden waren, befanden sich neun Monate lange im Land und waren von einer Mentalität geprägt, die durch die Ostfront radikalisiert worden war. Der vorliegende Beitrag argumentiert, dass der Bevölkerungsrückgang in der Provinz nach Kriegsende größtenteils aus dem Verhalten der sich zurückziehenden deutschen Armee resultierte. Die von der Wehrmacht auf dem Rückzug aus der Sowjetunion entwickelten Vorgehensweisen waren auch auf deutschem Boden immer noch klar erkennbar und beeinflussten das alltägliche Leben noch lange nachdem der Krieg vorbei war.
Rüdiger Graf, Verhaltenssteuerung jenseits von Markt und Moral. Die umweltpolitische Regulierungsdiskussion in der Bundesrepublik Deutschland und den USA im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts
Sowohl in nationalen Regierungen als auch in internationalen Organisationen werden seit einigen Jahren zunehmend politische Steuerungsinstrumente diskutiert, die auf Erkenntnisse der Verhaltenswissenschaften zurückgreifen. Im Unterschied zu Vorschriften, ökonomischen Anreizen und Aufklärungsmaßnahmen versprechen vor allem die sogenannten Nudges sanfter, effektiver und kostengünstiger zu steuern, indem sie die systematischen Verzerrungen menschlichen Entscheidungsverhaltens ausnutzen. Während gegenwärtige Nudging-Euphorie zumeist auf den Aufstieg der Behavioral Economics seit den 1980er Jahren zurückgeführt wird, argumentiert der Aufsatz, dass sich zeitgleich in der umweltpolitischen Regulierungsdiskussion bereits eine ähnliche Entwicklung zeigte. Mit der Enttäuschung darüber, dass sich Umweltbewusstsein nicht in umweltgerechtes Verhalten umsetzte, und der Erkenntnis der Grenzen ökonomischer Steuerungsinstrumente avancierte „Umweltverhalten“ in den 1980er Jahren zu einer selbständigen Kategorie, die Sozial- und Verhaltenswissenschaftler zu beschreiben und zu beeinflussen versuchten. Diese gleichzeitige Veränderung von politischem Regulierungs- und theoretischem Reflexionsdiskurs wird auf vier Faktoren zurückgeführt: den akademische Siegeszug der Verhaltenswissenschaften, die Enttäuschung über idealisierte Rationalitätsannahmen und das Projekt verwissenschaftlichter Politikgestaltung, den Wandel des Planungsdenkens sowie die Prozesse der Deregulierung und Vermarktlichung.
Malte König, „Geschichte ist machbar, Herr Nachbar!“ Die Umbenennung der Berliner Kochstraße in Rudi-Dutschke-Straße 2004 bis 2008
Im April 2008 benannte das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg einen Abschnitt der Berliner Kochstraße in Rudi-Dutschke-Straße um. Ursprünglich eine Initiative der Tageszeitung taz, hatte die PDS im Dezember 2004 den entsprechenden Antrag gestellt. Da der einstige Studentenführer als historische Persönlichkeit nicht unumstritten war und die Umbenennung – unmittelbar vor der Springer-Zentrale – auf eine Kreuzung Rudi-Dutschke-/Axel-Springer-Straße hinauslief, entstand eine intensive öffentliche Debatte, die mit der Entscheidung der Bezirksverordnetenversammlung im August 2005 nicht abgeschlossen war. Es folgten ein von der CDU beantragter Bürgerentscheid sowie Klagen vor dem Berliner Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht. Die vorliegende Studie über ein harmlos anmutendes Straßenschild versteht sich als Beitrag zum Themenfeld Erinnerungskultur und Geschichtspolitik: Einerseits handelte es sich um einen Machtkampf zwischen der taz und dem Axel Springer-Konzern, andererseits um eine Stellvertreterdebatte, bei der es nicht allein um Dutschke und die Frage seiner Gewaltbereitschaft ging, sondern um die Deutungshoheit bezüglich der 68er-Bewegung insgesamt.
Sören Eden/Henry Marx/Ulrike Schulz, Ganz normale Verwaltungen? Methodische Überlegungen zum Verhältnis von Individuum und Organisation am Beispiel des Reichsarbeitsministeriums 1919 bis 1945
Zurzeit entstehen zahlreiche Studien zu den Reichsministerien vor und nach 1945. Sie alle interessieren sich für die Rolle der Ministerialbeamtinnen und -beamten im Nationalsozialismus und wollen den spezifischen Anteil ihrer Verstrickung in die nationalsozialistischen Verbrechen aufzeigen. Die damit verbundene Frage nach individueller „Belastung“ und „Verantwortung“ der Beamten und Mitarbeiter dieser Behörden wird in diesen Projekten methodisch meist nur wenig überzeugend beantwortet. Der vorliegende Aufsatz stellt einen neuen, produktiven Ansatz vor, der sich an den organisationssoziologischen Studien von Niklas Luhmann und Stefan Kühl orientiert. Er ermöglicht es, nach individuellen Handlungsspielräumen in der komplexen Organisationsstruktur der öffentlichen Verwaltung zu fragen. Anhand von Beispielen aus der Geschichte des Reichsarbeitsministeriums beschreibt der Artikel, wie Organisationen das Handeln ihrer Mitglieder konfigurieren, ohne es vollständig zu determinieren, und wie die Mitglieder durch ihr Handeln Veränderungsdruck auf die Organisationsstrukturen erzeugen. Mit diesem soziologisch informierten Blick auf das Ministerium bietet der Artikel einen Diskussionsbeitrag zur historischen Forschung über die Rolle der Verwaltung in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus.