Heft 4/2019

Aufsätze:

  • Hans Maier: Hitler und das Reich. (A)
  • Anna Georgiev: Jüdische Selbstbehauptung in Berlin. Die Geschichte der 500 Thorarollen, die die NS-Zeit in Berlin-Weißensee überdauerten. (A)
  • Felix Lieb: Ein überschätztes Buch? Karl Jaspers und „Die Schuldfrage“. (A)
  • Felix Wiedemann: „Anständige“ Täter – „asoziale“ Opfer. Der Wiesbadener Juristenprozess 1951/52 und die Aufarbeitung des Mords an Strafgefangenen im Nationalsozialismus. (A)
  • Hubert Leber: Der deutsch-israelische Raketenstreit von 1978. Zum Umgang der sozialliberalen Bundesregierung mit Rüstungsexporten aus Koproduktion. (A)

 

 

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Abstracts

Hans Maier, Hitler und das Reich

 

Das Reich war seit dem Mittelalter eine zentrale Kategorie deutschen juristischen und politischen Denkens. Vom Heiligen Römischen Reich deutscher Nation über das Kaiserreich bis zum Dritten Reich hat es gleichzeitig die politische wie territoriale Struktur als auch die politischen Hoffnungen der deutschen Lande bestimmt. Trotz seiner Zentralität ist das Konzept des Reichs im Kontext des Nationalsozialismus noch nicht vollständig untersucht worden. Wichtige Fragen über das Verhältnis des Regimes zu diesem politischen Begriff und Modell blieben daher bisher unbeantwortet: Wie sah, zum Beispiel, Hitler das Reich? Welche Rolle spielte es in seinem Denken? Dieser Aufsatz untersucht die Rolle des Konzepts des Reichs im Denken zentraler NS-Akteure wie Hitler selbst sowie Goebbels, Rosenberg und Himmler. Er zeigt, dass, trotz der wohlbekannten Identifikation des Nazismus mit dem Begriff Drittes Reich, Hitler sich tatsächlich vom Reichskonzept distanzierte – besonders vom Heiligen Römischen Reich und seiner christlich-universalistischen Tradition. Sogar Bismarcks Kaiserreich war nicht in dem Maß ein Vorbild für den Nationalsozialismus wie dies manchmal unterbreitet wird. Der Begriff Drittes Reich selbst wurde von Hitler explizit abgelehnt. Mit dem Ende des Nazismus verschwand das Reich endgültig aus der deutschen juristischen Tradition. Es wurde schlicht durch den Begriff Deutschland ersetzt.

 


Anna Georgiev, Jüdische Selbstbehauptung in Berlin. Die Geschichte der 500 Thorarollen, die die NS-Zeit in Berlin-Weißensee überdauerten

 

Während der NS-Zeit wurden rund 500 Thorarollen auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin Weißensee vor der Zerstörung bewahrt. Bisher galt die Erforschung der konkreten Umstände als Desideratum. Anna Georgiev kann die Geschichte der in Weißensee versteckten Thorarollen von ihrer Einlagerung bis hin zu ihrer Verteilung nach dem Krieg durch Hannah Arendt im Rahmen ihrer Tätigkeit für die Jewish Cultural Reconstruction nun weitergehend rekonstruieren, dabei greift sie auch auf bisher unveröffentlichtes Bildmaterial zurück. Das Verstecken der Thorarollen lässt sich als Form von Widerstand und jüdischer Selbstbehauptung begreifen. Trotz drohender Deportation setzten sich die Beteiligten für den Erhalt der Rollen und somit für die Bewahrung jüdischer Traditionen ein.

 


Felix Lieb, Ein überschätztes Buch? Karl Jaspers und „Die Schuldfrage“


Nur wenige Monate nach Ende des Zweiten Weltkriegs mahnte der Philosoph Karl Jaspers, dass das „Übernehmen der Schuld […] zu einem Grundzug unseres deutschen Selbstbewußtseins“ werden müsse. Jaspers’ 1946 veröffentlichte „Schuldfrage“ und die darin formulierte Unterscheidung zwischen krimineller, politischer, moralischer und metaphysischer Schuld gelten bis heute als ausgesprochen wichtigste Beiträge zur Frage nach der Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus. Auf der Grundlage der zeitgenössischen Reaktionen kann Felix Lieb zeigen, dass Jaspers’ Buch in der Nachkriegszeit kaum wahrgenommen wurde. Außerdem begriffen die Deutschen seine Thesen zunächst weniger als Aufruf zum eigenen Schuldeingeständnis, sondern eher als willkommenes Instrument zur Abwehr eines vermeintlichen Kollektivschuldvorwurfs.

 


Felix Wiedemann, „Anständige“ Täter – „asoziale“ Opfer. Der Wiesbadener Juristenprozess 1951/52 und die Aufarbeitung des Mords an Strafgefangenen im Nationalsozialismus

 

Die Ermordung tausender „asozialer“ Justizgefangener zwischen 1942 und 1944 gehört zu den weniger bekannten NS-Verbrechen. Dabei war das Geschehen bereits in der Nachkriegszeit Gegenstand umfangreicher Ermittlungen, die 1951 im Wiesbadener Juristenprozess gegen führende Ministerialbeamte des ehemaligen Reichsjustizministeriums mündeten. Als unmittelbares Nachfolgeverfahren des Nürnberger Juristenprozesses markiert der mit Freisprüchen endende Wiesbadener Prozess den Übergang von der Besatzungsjustiz zur Justiz der frühen Bundesrepublik. Darüber hinaus reflektiert das Verfahren die spezifischen justiz- und vergangenheitspolitischen Entscheidungen, gesellschaftlichen Narrative und Moralvorstellungen der frühen 1950er Jahre.

 


Hubert Leber, Der deutsch-israelische Raketenstreit von 1978. Zum Umgang der sozialliberalen Bundesregierung mit Rüstungsexporten aus Koproduktion  

 

Die Nachricht, dass Frankreich moderne Panzerabwehrraketen an Syrien liefere, sorgte 1978 für Unruhe in Israel. Produziert wurden die Flugkörper im Rahmen einer deutsch-französischen Rüstungskooperation. Daher forderte Israel von der Bundesregierung, das Waffengeschäft zu unterbinden. Es kam zu einem monatelangen Konflikt zwischen Bonn und Jerusalem, den Hubert Leber erstmals anhand von Archivquellen aus beiden Ländern untersucht. Die Analyse bietet Einsichten zur normativen Entwicklung der deutschen Rüstungsexport- und Israel-Politik. Nach außen gab sich die Regierung Schmidt/Genscher machtlos. Tatsächlich aber verzichtete sie darauf, eine Veto-Option auszuschöpfen, die sie sich intern gegen Exporte aus Partnerländer der Rüstungskooperation vorbehalten hatte. Zu den Folgen gehörte, dass israelische Soldaten im Libanonkrieg 1982 durch deutsche Militärtechnik verletzt oder getötet wurden.

 




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