Heft 3/2020

  • Hubert Leber: Rüstungsexporte und Holocaust-Erinnerung. Saudi-Arabien, der Leopard 2 und die geheime Israel-Klausel von 1982 – ein Bonner Paradigmenwechsel. (A)
  • Julia Hörath: Widerwillige Retter? Zuhälter im Visier der Kriminalpolizei. „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ im Reich und in Bremen 1933 bis 1938. (A)
  • Sebastian Voigt: Eine „Schandgasse“ im Arbeitskampf. Der Chemiestreik 1971 bei Merck in Darmstadt – eine Fallstudie zu den industriellen Beziehungen in der Bundesrepublik am Ende des „Wirtschaftswunders“. (Dok)
  • VfZ-Schwerpunkt Globalisierung - Jan Eckel: Politik der Globalisierung. Clinton, Blair, Schröder und die Neuerfindung der Welt in den 1990er und 2000er Jahren.

 

 

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Abstracts

Hubert Leber, Rüstungsexporte und Holocaust-Erinnerung. Saudi-Arabien, der Leopard 2 und die geheime Israel-Klausel von 1982 – ein Bonner Paradigmenwechsel

 

Als der Bundessicherheitsrat unter Kanzler Helmut Schmidt im Frühjahr 1982 neue Politische Grundsätze für den Rüstungsexport verabschiedete, wurde eine geheime Protokollnote angenommen, die als Israel-Klausel firmierte. Sie gab vor, dass bei Entscheidungen zur Waffenausfuhr „auch die geschichtliche Verantwortung der Deutschen gegenüber dem jüdischen Volk berücksichtigt wird“. Hintergrund war der Wunsch Saudi-Arabiens, Hunderte Leopard 2-Panzer zu erwerben, der in Bonn eine monatelange Kontroverse ausgelöst und zu einer tiefen Krise der deutsch-israelischen Beziehungen geführt hatte. Hubert Leber untersucht den Panzer-Streit von 1981/82 erstmals auf Basis deutscher wie israelischer Regierungsakten und verknüpft dabei Internationale Geschichte mit vergangenheitspolitischen Perspektiven. Das Verantwortungspostulat, das sich die Bundesregierung auf Initiative von Außenminister Hans-Dietrich Genscher zu eigen machte, markierte eine Zäsur für die Bonner Israel-Politik. Galt im Umgang mit dem jüdischen Staat bis dahin eine Art Verjährungsparadigma, so wurde die Erinnerung an den Holocaust zu Beginn der 1980er Jahre als dauerhaft wirksamer Faktor deutschen Regierungshandelns anerkannt.

 


Julia Hörath, Zuhälter im Visier der Kriminalpolizei. „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ im Reich und in Bremen 1933 bis 1938

 

Als Adolf Hitler 1933 das Amt des Reichskanzlers übernahm, galt in der Hansestadt Bremen das Rotlichtmilieu als polizeiliches Ordnungsproblem ersten Ranges. Früh begann dort die Kriminalpolizei, Sexarbeiterinnen und Zuhälter ohne richterliches Urteil, in alleiniger Zuständigkeit zu inhaftieren. Kurz nachdem Preußen im November 1933 die „vorbeugende Polizeihaft für Berufsverbrecher“ eingeführt hatte, diskutierte man in Fachkreisen deren Ausweitung auf Zuhälter. Die Begründungszusammenhänge, welche die Bremer Kriminalisten in dieser Debatte vorbrachten, legten einen wichtigen Grundstein für die Erweiterung des kriminalpräventiven Zugriffs auf neue Zielgruppen. Allerdings wurde die Geschichte der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ in der Historiografie über den Nationalsozialismus lange vernachlässigt. Bis heute zählen Verfolgte wie die Zuhälter zu den „unbequemen Opfern“. Doch gerade ihre Geschichte rückt Traditionslinien und Entwicklungsdynamiken in den Blick, die, so zeigt Julia Hörath, zentral für das Verständnis der Radikalisierung von Polizei- und Strafgewalt seit dem Ende der 1930er Jahre sind.

 


Sebastian Voigt, Eine „Schandgasse“ im Arbeitskampf. Der Chemiestreik 1971 bei Merck in Darmstadt – eine Fallstudie zu den industriellen Beziehungen in der Bundesrepublik am Ende des „Wirtschaftswunders“

 

Die frühen 1970er Jahren waren eine Zeit intensiver Arbeitskämpfe. Auch in der traditionell sozialpartnerschaftlichen Chemieindustrie rief die Gewerkschaft Chemie – Papier – Keramik zum ersten und einzigen Flächenstreik in dieser Branche auf. Sebastian Voigt zeichnet seine Entstehung, den Verlauf und den Ausgang nach. Am Beispiel der besonders heftig geführten Auseinandersetzung bei Merck in Darmstadt beleuchtet er anhand eines Schlüsseldokuments aus dem Nachlass des Darmstädter Gewerkschaftsfunktionärs Heinz-Günter Lang die unterschiedlichen Konfliktebenen und die innergewerkschaftliche Konstellation. In abschließenden Thesen plädiert Voigt dafür, den Gewerkschaften und den Arbeitskämpfen einen zentralen Ort in der Geschichte der Bundesrepublik und des „Rheinischen Kapitalismus“ einzuräumen.

 


Jan Eckel, Politik der Globalisierung. Clinton, Blair, Schröder und die Neuerfindung der Welt in den 1990er und 2000er Jahren

 

Statt Globalisierung als Basisprozess des späten 20. Jahrhunderts vorauszusetzen, sollte die Zeitgeschichte die Vorstellung einer Globalisierung als ein historisches Produkt der Jahrtausendwende untersuchen. Politisch gewann die Globalisierungsrede weitreichende Bedeutung. Die Regierungen Bill Clintons, Tony Blairs und Gerhard Schröders begründeten zentrale innen- und außenpolitische Reformvorhaben mit den Handlungserfordernissen einer sich rasch verflechtenden Welt. Dabei stützte sich die Politik im Namen der Globalisierung auf unscharfes Wissen, oszillierte zwischen Überzeugung und Strategie und beförderte im Ergebnis manche der Verflechtungen, mit denen ihre Notwendigkeit begründet worden war. So sehr politische Gegner diese Reformen bekämpften, teilten sie doch weitgehend die zugrunde liegenden Diagnosen.