Stolperstein in Erinnerung an Hermine Lesser

Hermine Lesser (1853–1943) war eine besonders engagierte Bürgerin, bis sie im Alter von fast neunzig Jahren nach Theresienstadt deportiert wurde. Am Mittwoch, 7. Oktober, wurde in der Marburger Straße 5 in Berlin ein Stolperstein angebracht, der an sie erinnert. Im Institut für Zeitgeschichte München–Berlin (IfZ) wird ein Teil ihres Nachlasses aufbewahrt: Der Briefwechsel Hermine Lessers mit Verwandten in Holland ist ein bewegendes Dokument des deutsch-jüdischen Alltags im Ausnahmezustand.

„An Deiner Brust das gelbe Feld, Zeig es bewußt der ganzen Welt, Zeig stolz und frei, was Dich nur ehrt, Ein Jude ist des Sternes wert! – Nicht tragen darfst Du das Ordensband, erworben im Kampf für’s Vaterland, Doch bestehen bleibt für alle Zeit, 12 Tausend waren zu sterben bereit.“ Der Verweis auf die gefallenen jüdischen Deutschen im Ersten Weltkrieg vom Mai 1942 entstammt einem Brief der 89-jährigen Hermine Lesser an ihre Enkelin in Holland. Sie berichtete der jungen Frau darin, dass ihre Großmutter, die in Berlin zurückgeblieben war, seit nunmehr acht Monaten den „Judenstern“ trug. So kämpferisch die betagte Frau ihren Verwandten schrieb, so erschütternd ist auch ihre Beschreibung, wie sehr die antijüdischen Gesetze ihr das Leben erschwerten.

Nachlass im IfZ-Archiv

Dass diese Zeitzeugenberichte erhalten geblieben sind, ist einem ihrer Enkel zu verdanken: Er übergab im Mai 1985 dem Archiv des Instituts für Zeitgeschichte ein Konvolut an Briefen, die seither dort für die wissenschaftliche Forschung zur Verfügung stehen. Es handelt sich um die Korrespondenz zwischen Hermine Lesser und ihren Verwandten in den Niederlanden, die teilweise in die Quellenedition „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945“ (Band 6: Deutsches Reich und Protektorat Oktober 1941 – März 1943) sowie die entsprechende Höredition „Die Quellen sprechen“ – ein Gemeinschaftsprojekt des IfZ mit dem Bayerischen Rundfunk – eingegangen ist und Zeugnis über den Alltag der deutschen Jüdinnen und Juden im nationalsozialistischen Deutschland abgibt.

Die Mitte des 19. Jahrhunderts geborene Hermine Philipp heiratete 1880 den Textilfabrikanten Paul Lesser (Jahrgang 1846). Die Mutter zweier Töchter engagierte sich in der jüdischen Frauenbewegung und Sozialhilfe; sie leitete die Berliner Rechtsschutzstelle für Frauen und war Vorsitzende des Vereins Israelitisches Heimathaus und Volksküche e. V. Hermine Lesser blieb auch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Berlin: „Von allen guten Sachen sind wir ausgeschlossen“, schrieb sie ihrer Enkeltochter 1942, „dazu die Sperre für viele Straßen, der Tiergarten, […] Bellevue, jeder grüne Platz, keine Bank, kein Stuhl ist für uns gestattet, so daß der Sommer auch wenig Reiz für mich hat, da man nicht ins Freie darf und auch jedes Ausruhen unmöglich ist“.

Stolperstein in der Marburger Straße 5

Am 15. September 1942 wurde Hermine Lesser nach Theresienstadt deportiert. „Wie hat sich seit gestern mein Leben geändert“, schrieb sie den Enkelkindern: „Die Alten sind jetzt an der Reihe. Meine Transport-Nummer ist 09823.“ Sie gehe mit, „weil man an Tatsachen nichts ändern kann“ und „halte den Kopf oben, denn wir haben uns nichts vorzuwerfen; will gerne durchhalten, da ich den Wandel der Zeiten zu unseren Gunsten gerne miterleben möchte“.

Hermine Lesser starb 1943 in Theresienstadt. Seit Mittwoch, 7. Oktober, erinnert ein Stolperstein vor ihrer ehemaligen Wohnung in Berlin an ihr beinahe 90-jähriges Leben in Deutschland.



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