Fünf Fragen an…

…Nadine Freund und Gunnar Take

Das Bundeskanzleramt war seit 1949 die politische Schaltzentrale der jungen westdeutschen Demokratie. Dabei bewegte es sich im Spannungsfeld zwischen demokratischem Neubeginn und den Nachwirkungen des Nationalsozialismus. Ein notorisches Beispiel ist der langjährige Amtschef Hans Globke, dessen NS-Belastung schon in den frühen Jahren der Bundesrepublik regelmäßig für Skandale sorgte. Doch über das Gros des Personals im Bundeskanzleramt war bisher nur wenig bekannt. 

Gunnar Take und Nadine Freund haben am IfZ für das gemeinsam mit dem ZZF Potsdam bearbeitete Forschungsprojekt die Personalpolitik der Behörde sowie die Prägungen und Politikstile ihres Spitzenpersonals untersucht. In unserem Format „Fünf Fragen an…“ geben sie ambivalente Einblicke in die frühen Jahre der Bundesrepublik.

1. Eine wichtige Frage, die in der Behördenforschung immer wieder gestellt wird: Wie konnte sich die junge Bundesrepublik trotz der Belastungen, die viele Beamte noch aus der NS-Zeit mitbrachten, nach 1945 zu einer stabilen Demokratie entwickeln? Welche Antworten darauf haben Sie aus Ihrer Untersuchung des Kanzleramts gewinnen können?

Nadine Freund: Das antidemokratische Denken vieler Beamter des Kanzleramts rührte nicht nur aus dem Nationalsozialismus. Auch Ordnungsvorstellungen des Kaiserreichs spielten hier eine Rolle. Die Weimarer Republik bot die Möglichkeit zur Kurskorrektur, die jedoch von vielen Beamten, die im Dienst der Republik standen, aktiv ausgeschlagen wurde. Personen, die vom Geist der Weimarer Republik erfüllt waren und solche, die sie geringschätzten oder sie, wie in Hans Globkes Fall, sogar aktiv bekämpften, stießen nach Kriegsende wieder aufeinander. Erstere wiesen letztere in ihre Schranken und sensibilisierten in ihrer Oppositionsrolle die Bevölkerung für Themen wie den Wert der Pressefreiheit, was ein schleichendes Umdenken der breiten Bevölkerung nach sich zog. Die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik bot hierfür einen wirksamen Rahmen. Das Wissen darum, dass die Opposition auf die Einhaltung dieser Ordnung drängen würde, unterstützt von Medien, die nicht den Adenauer-Kurs verfolgten, wirkten wie eine Vorzensur auf Regierungshandeln. Ein Beispiel hierfür ist das Agieren des Kanzleramts im Zusammenhang mit dem Wahlrecht. Tendenzen Adenauers, die Verpflichtung zur gleichen Wahl nicht zu ernst zu nehmen, wurden selbst innerhalb des Kanzleramts von einem hochrangigen Mitarbeiter als nicht durchsetzbar kritisiert – mit Verweis auf die Opposition, das Bundesverfassungsgericht und Medien.

Gunnar Take: Ich habe dazu weniger neue Erkenntnisse gewonnen, sondern vorwiegend die Deutungslinie von der „heilsamen Kraft des Opportunismus“ weiter unterfüttert. Die Beamten wollten einen starken Staat und wenn dieser eben eine Demokratie war, dann möglichst autoritär. Die Stabilität wurzelte wohl vor allem in der außen- und verteidigungspolitischen Sicherheitsgarantie der USA, auf Bundesebene in der bemerkenswert konstruktiven außer-/parlamentarischen Opposition der gemäßigten Linken und im Grundgesetz, das Föderalismus und Rechtstaatlichkeit stärkte und Ansatzpunkte für Liberalisierungsbestrebungen bot.

2. Seit 1949 im Kanzleramt und von 1953 bis 1963 als Staatssekretär dessen Leiter zählt Hans Globke zu den einflussreichsten Beamten in der Geschichte der Bundesrepublik. Warum war er so umstritten?

Gunnar Take und Nadine Freund: Globke war während des „Dritten Reichs“ als höherer Beamter im Innenministerium an vielen nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt. Nachdem Adenauer ihn im Herbst 1949 ins Kanzleramt geholt hat, hat die sozialdemokratische Bundestagsopposition sofort öffentlichkeitswirksam darauf aufmerksam gemacht. Dies taten später zusätzlich auch Akteure aus der Zivilgesellschaft sowie Propagandisten aus der DDR. Akteure aus der CDU/CSU und der Partei nahestehenden Kreisen haben Globke hingegen verteidigt und auf Basis von fragwürdigen Indizien und Argumenten – die vielfach von Globkes persönlichem Referenten geliefert wurden – eine Nähe oder gar Beteiligung am NS-Widerstand behauptet. 

3. Globke war ja nicht der einzige Mitarbeiter des Kanzleramts, der nach 1945 seine Biografie verschleiern musste. Wie stellten die Beamten des Kanzleramts in den Entnazifizierungsverfahren und später ihre eigenen Tätigkeiten während des „Dritten Reichs“ dar?

Nadine Freund und Gunnar Take: Die Kanzleramtsleiter gaben an, mit Widerstandgruppen zusammengearbeitet oder gar selbst Widerstand geleistet zu haben. Tatsächliche Beziehungen zum Widerstand, wie im Fall von Otto Lenz, und widerständiges Handeln, wie bei Franz-Josef Wuermeling, wurden retrospektiv überhöht. Ein gern beschriebenes Narrativ unter den Beamten war es, aufgrund ihrer katholischen Sozialisation und fortlaufenden Zugehörigkeit zu bürgerlichen Milieus gegen die NS-Ideologie immun gewesen zu sein. Eine wichtige Rolle in den Entschuldungsstrategien spielte auch die Behauptung, als Beamte der traditionell unpolitischen Staatsverwaltung verpflichtet gewesen zu sein und sich stets bemüht zu haben, das von genuin nationalsozialistischen Institutionen und Personen stammende Unheil zu verhüten.

4. Welche Bedeutung hatte die lange Amtszeit Adenauers für die Personalpolitik im Bundeskanzleramt? 

Gunnar Take: Viele hätten sich eine schwache Kanzlei gewünscht, aber Adenauer schuf sich ein starkes und auf ihn zugeschnittenes Kanzleramt. Keinen Platz hatten dort Angehörige früherer Verfolgtengruppen, Sympathisanten von Oppositionsparteien, selbst Vertreter des linken CDU-Flügels, Frauen – es war eine homogene Gruppe, zugespitzt: „Adenauer-Knechte“. Seine Nachfolger Erhard und Kiesinger schafften es nicht, das ultrastabile Amt in ihrem Sinn umzubauen. 

Nadine Freund: Dass Personal aus der Ära Adenauer noch lang im Kanzleramt überdauerte scheint sich – ohne dies bewerten zu wollen – mäßigend bzw. retardierend auf Kurskorrekturen bei Regierungswechseln ausgewirkt zu haben. Dies konnte ich im Zusammenhang mit dem Familienrecht zu Beginn der 1970er Jahre beobachten.

5. Welche Personalie hat Sie im Laufe Ihrer Arbeit besonders beeindruckt und warum?

Gunnar Take: Positiv beeindruckt hat mich niemand. Negativ hat Friedrich Karl Vialon den größten Eindruck hinterlassen, Wirtschafts- und Finanzabteilungsleiter im Kanzleramt. Er war 1942 nach Riga entsandt worden, um in der dortigen „Subzentrale des Völkermords“ die Finanzen in Ordnung zu bringen. Er bewilligte Mittel für den Einsatz von Todesschwadronen, verwaltete die Erlöse aus dem Zahngold von Mordopfern und beging viele weitere „Schreibtischtaten“. Noch 1971 wurde er von einem Oberlandesgericht freigesprochen, obwohl er einen Meineid geleistet hatte, seinerzeit vom Holocaust nichts gewusst zu haben. 

Nadine Freund: Beeindruckt hat mich der Kanzleramtsleiter unter Willy Brandt von 1969-1972, Horst Ehmke. An ihm lässt sich nachvollziehen, dass die Personen, die als Jugendliche mit nationalsozialistischem Ideengut indoktriniert wurden, nicht zwingend für die Demokratie verloren waren. Horst Ehmke, 1927 geboren, 1943 als Flakhelfer eingesetzt und gegen Kriegsende in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten, hat in Göttingen und Princeton studiert und 1952 eine Dissertation vorgelegt, die sich thematisch um die Sicherung und Wahrung des Kerngehalts demokratischer Verfassungen dreht. Seine Personalie zeigt, dass nicht zuletzt die Re-Education-Bestrebungen der Westalliierten junge Deutsche zum Umdenken bewegen konnten. 

Zu den Personen
 

Nadine Freund war von 2017 bis 2022 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte. Aktuell ist sie Dozentin am Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) sowie Privatdozentin an der Universität Kassel mit Schwerpunkten in der Zeitgeschichte, der Erinnerungskultur und dem Rechtsextremismus.

Gunnar Take war bis 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte. Seit 2022 arbeitet er in der Abteilung Unternehmensgeschichte der Universität Stuttgart und forscht zum Geld- und Bankwesen in der DDR.

Jutta Braun, Nadine Freund, Christian Mentel, Gunnar Take

Das Kanzleramt. Bundesdeutsche Demokratie und NS-Vergangenheit

Wallstein, Göttingen 2025

ISBN: 978-3-8353-5598-9