Tagung zur Studie „Funktionäre mit Vergangenheit“

Wie bewerten Wissenschaftler die aktuellen Ergebnisse der IfZ-Studie „Funktionäre mit Vergangenheit“? Welche Konsequenzen könnte die Arbeit von Michael Schwartz für künftige Forschungsprojekte zur NS-Belastung der deutschen Funktionselite nach dem Zweiten Weltkrieg haben, was bedeutet sie für die künftige Rezeption der Vertriebenengeschichte ?


Mit diesen und ähnlichen Leitfragen beschäftigte sich ein prominent besetztes Expertenpodium im Institut für Zeitgeschichte anlässlich der öffentlichen Präsentation der Studie am 26. November in München.  Martin Schulze Wessel (München), Matthias Stickler (Würzburg) und Krzysztof Ruchniewicz (Breslau/Wroclaw) diskutierten mit dem Verfasser der Studie Michael Schwartz. Moderiert wurde die Runde von Institutsdirektor Andreas Wirsching.


„Warum so spät?“ umriss Krzysztof Ruchniewicz  einen zentrale Fragestellung aus polnischer Sicht. Es sei höchste Zeit gewesen und gerade für  die polnische Öffentlichkeit von großer Bedeutung, dass eine renommierte Forschungseinrichtung wie das Institut für Zeitgeschichte sich dieser Frage angenommen habe. Aber auch, dass der Bund der Vertriebenen bereit gewesen sei, eine solche Studie überhaupt in Angriff zu nehmen: „Ich verstehe diese Studie als ersten Schritt zu einer kritischen Auseinandersetzung.“  Zu lange, so Ruchniewicz, sei die Geschichte der deutschen Ostgebiete den Vertriebenen überlassen worden. Möglicherweise sei nun die Zeit reif, gemeinsame Projekte deutscher und polnischer Wissenschaftler auf diesem Feld voranzutreiben.


Martin Schulze Wessel verwies auf die besondere Rolle der Vertriebenen in der deutschen Erinnerungskultur als  Opfergruppe: „Von Opfern wird immer Unschuld verlangt.“ Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der ersten Vertriebenenfunktionäre könne nun die Chance zu einer differenzierteren Bewertung eröffnen. Ein lohnendes Forschungsfeld sieht der Münchner Historiker auch in der Geschichte der jungen Bundesrepublik: Wie habe sich in der Nachkriegszeit ein Kräftefeld etablieren können, in dem sich Personen mit NS-Biographien durchsetzen konnten, politisches Verhalten in der Tradition des Dritten Reiches gewissermaßen prämiert worden sei?


Dass gerade in den Reihen der Vertriebenen das durchaus vorhandene Wissen um die NS-Täterschaft einzelner Funktionäre  nicht zum Thema gemacht wurde, sieht Matthias Stickler in der Exilerfahrung begründet: „Man hatte offenbar das Gefühl, zusammenhalten zu müssen.“ So habe sich in der Nachkriegszeit ein hohes Maß an Solidarität zwischen Personen herausgebildet, die sich in der NS-Diktatur eigentlich konträr gegenüber standen.


Michael Schwartz bezeichnete dies als Immunisierungsstrategie innerhalb des Vertriebenenverbandes, der sich der BdV nun endlich selbstkritisch stellen müsse. Eine ähnliche Immunisierung habe es gegen frühe Hinweise auf die NS-Belastung der Vertriebenenfunktionäre gegeben: Vorwürfe, die aus dem Osten kamen, wurden eher als Propaganda im Kontext des Kalten Krieges zurückgewiesen.  Gerade in den letzten Jahren aber habe sich ein gewandelter gesellschaftlicher Rahmen eröffnet, verwies Schwarz auf jüngste Forschungsarbeiten zur NS-Vergangenheit von Organisationen und Bundesbehörden: „Wir Historiker sind Teil einer neuen kritischen Fragekultur.“


Jenseits der individuellen Belastungen der untersuchten Funktionärsgruppe liefert die Studie nach Ansicht von Andreas Wirsching auch prägnante Erkenntnisse über die NS-Herrschaftsstruktur und wiederkehrende Täterprofile: „Die einzelnen Lebensläufe zeigen die tiefe Verankerung des NS-Regimes gerade bei den bürgerlichen Funktionseliten, die aktiv am Voranschreiten des Apparats und seiner Praktiken beteiligt waren. Das eigentliche Skandalon ist letztlich diese Normalität.“


Das Institut für Zeitgeschichte setzt die Diskussion um die Studie „Funktionäre mit Vergangenheit“ in einer zweiten Podiumsrunde fort: Am 4. Dezember diskutieren in Berlin die Präsidentin des BdV Erika Steinbach, Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse und Spiegel-Redakteur Klaus Wiegrefe. Moderiert wird die Runde vom Direktor des Herder-Instituts Peter Haslinger.



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