Fünf Fragen an…

...Thomas Raithel und Niels Weise

Knapp sechseinhalb Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde Mitte Oktober 1955 das Bundesministerium für Atomfragen gegründet, das sich – unter wechselnden Namen – nach und nach zu einem Forschungs- und später auch Bildungsministerium entwickelte. In einem Forschungsprojekt des IfZ haben Thomas Raithel und Niels Weise das Haus aus institutionen-, diskurs- und personengeschichtlicher Perspektive untersucht. Die Ergebnisse wurden nun unter dem Titel „Für die Zukunft des deutschen Volkes. Das Atom- und Forschungsministerium zwischen Vergangenheit und Neubeginn 1955-1972“ veröffentlicht.

In unserem Format „Fünf Fragen an...“ beschreiben die beiden IfZ-Historiker, welche historische Kontinuitäten sich in diesem betont zukunftsorientierten Ressort erkennen lassen und belegen damit die hohe Anpassungs- und Funktionsfähigkeit deutscher Eliten von der Weimarer Republik über das NS-Regime bis in die frühe Bundesrepublik.

1. Das Atom- und Forschungsministerium ist ja eigentlich eines der wenigen Ressorts, das selbst keine direkte NS-Vergangenheit hat, weil ein ähnlich zugeschnittener Vorgänger während des „Dritten Reiches“ noch gar nicht existiert hat. Was macht dieses Haus dennoch so interessant, um Kontinuitäten und Brüche im Umgang mit dem Nationalsozialismus und auch im Verhältnis zur Vergangenheit vor 1933 zu untersuchen?


Das heutige Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) besitzt keinen direkten institutionellen Vorläufer vor 1945. Weder die Kernforscher des „Uranvereins“ im Nationalsozialismus noch höhere Beamte des nationalsozialistischen Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung fanden ihren Weg in das Atom- und Forschungsministerium der Bundesrepublik. Dennoch verfügte das Leitungspersonal des 1955 als Bundesministerium für Atomfragen gegründeten Ressorts über vielfältige individuelle biographische Bezüge zur Zeit des Nationalsozialismus. Dies gilt auch für die zahlreichen Führungskräfte mit einem naturwissenschaftlichen und technischen Bildungsgang. Generell zeigte sich im Falle des Atom- und Forschungsministeriums ein stark ausgeprägtes Spannungsverhältnis von Vergangenheit und Neubeginn: NS-Belastungen, aber auch eine zeitlich sehr viel weiter zurückreichende national-konservative Grundhaltung kontrastierten mit einem intensiven Zukunftsbezug im Selbstverständnis des Ministeriums.

2. In einer Zeit, in der der Ausstieg aus der Atomenergie eigentlich beschlossene Sache ist, mutet es besonders eigenartig an, dass es in den 1950er Jahren ein eigenes „Atomministerium“ gegeben hat. Was steckt dahinter?


In den frühen 1950er Jahren war die Kerntechnologie weltweit in den politisch-gesellschaftlichen Eliten ausgesprochen positiv besetzt. Besonders seit dem „Atoms für Peace“-Programm des US-amerikanischen Präsidenten Eisenhower schien sie eine Zukunft des unbegrenzten Wachstums, des Wohlstands und des Fortschritts zu verheißen. In der Bundesrepublik spielte auch die Furcht vor einem technologischen und wirtschaftlichen Rückstand gegenüber anderen Industriestaaten eine Rolle. Tagespolitisch konnte Kanzler Adenauer durch die Gründung des Ressorts den aufstrebenden Franz Josef Strauß mit einem Ministersessel versorgen. Langfristig betrachtet eröffnete die Forschungsförderung auf dem teuren Gebiet der Kernenergie dem Bund die Möglichkeit, schrittweise den eigenen Einfluss in der Forschungspolitik auf Kosten der Länder auszudehnen.

3. In vielen Untersuchungen zum Umgang zentraler deutscher Behörden und Ministerien mit der NS-Vergangenheit wird mit dem Begriff der „NS-Belastung“ operiert – doch wie man ihn definiert, ist mitunter sehr unterschiedlich. Wie haben Sie „NS-Belastung“ definiert?


Das Kriterium der formalen Belastung durch die Mitgliedschaft in der NSDAP oder in NS-Verbänden ist zwar relativ einfach greifbar, aber nicht immer aussagekräftig. Wir haben uns – ebenso wie andere Studien zur „Aufarbeitung“ der NS-Vergangenheit – auch Belastungen durch Handlungen und berufliche oder militärische Funktionen angesehen, etwa als Beamte im Nationalsozialismus oder als Angehörige der Wehrmacht im Vernichtungskrieg. Gleichzeitig haben wir immer wieder auch versucht auf den historischen Wandel im Belastungsbegriff einzugehen, der sich erst im Laufe der Jahrzehnte zu dem heutigen breiten Verständnis entwickelt hat.

4. Sie haben das Personal nicht nur statistisch untersucht, sondern auch Einzelbiografien beschrieben. Welche Aspekte fanden Sie hier besonders interessant?


Die Biographien von fünf Angehörigen des ministeriellen Führungspersonals haben wir deutlich intensiver und detaillierter untersuchen können, als das in den meisten vergleichbaren Studien bisher möglich war. Hier zeigte sich eine große Spannweite des individuellen Handelns im Nationalsozialismus. So wirkte der Chemiker Walther Schnurr – um 1960 Abteilungsleiter im Atomministerium – in führender Position in der NS-Rüstungswirtschaft mit, die in hohem Maße auf Zwangsarbeit angewiesen war. Ein gegenläufiges Beispiel ist der Jurist und spätere Staatssekretär im Atom- und Forschungsministerium Wolfgang Cartellieri, der wahrscheinlich zeitweise Kontakte zum militärischen Widerstand hatte. Gleichzeitig bestätigte sich einmal mehr das Bild vom systemübergreifenden Funktionieren deutscher Eliten von der Weimarer Republik über die nationalsozialistische Herrschaft bis in die Bundesrepublik. Besondere Aufmerksamkeit haben wir in diesem Zusammenhang auch auf die biographisch oftmals hochinteressante Phase zwischen dem Ende des NS-Regimes und dem Beginn des beruflichen Wiederaufstiegs in den 1950er Jahren gelegt.

5. Unterscheidet sich das Personal des BMBF von dem anderer Ministerien und wenn ja, wodurch?


Die meisten Ministerialverwaltungen rekrutierten sich traditionell ganz überwiegend aus Juristen. Im Atom- und Forschungsministerium gab es aber einen zahlenmäßig ebenso großen Anteil an Naturwissenschaftlern und Technikern. Bemerkenswert ist, dass das Ausmaß der NS-Belastung, ob formal oder handlungsbedingt bzw. funktional, bei Letzteren ähnlich hoch war wie bei den Juristen. Der Mythos der angeblich unpolitischen bzw. unbelasteten Experten konnte auch an dieser Stelle eindeutig widerlegt werden.




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