Nach Ansicht mancher Forschenden hat der „Neoliberalismus“ als „wirtschaftspolitische Ideologie“ in den 1980er Jahren mit der Forderung nach Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung einen globalen Siegeszug angetreten, der erst mit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 beendet worden sei. Ziel des Workshops ist es, das Verständnis über den Neoliberalismus zu erweitern, indem nach den Gründen für die Verwendung des Begriffs in unterschiedlichen Kontexten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts – vor allem seit den 1990er Jahren – gefragt wird.
„Neoliberalismus“ als Deutungsparadigma der neuesten Zeitgeschichte
Die Krise des Keynesianismus in den 1970er Jahren führte dazu, dass das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft neu ausgehandelt wurde. Dabei wählten die einzelnen Staaten Westeuropas bzw. Nordamerikas durchaus unterschiedliche Wege und grenzten sich teilweise voneinander ab. So setzte sich Bundeskanzler Helmut Kohl vom eingeschlagenen Wirtschaftskurs des US-Präsidenten Ronald Reagan („Reaganomics“) und der britischen Premierministerin Margaret Thatcher („Thatcherism“) deutlich ab. Und obschon Reagan und Thatcher häufig in einem Atemzug genannt werden, wenn vom Aufstieg des „Neoliberalismus“ die Rede ist, unterschieden sich auch ihre Politikansätze, denn Reagan nahm nicht nur anfängliche Einnahmeverluste durch Steuersenkungen in Kauf, sondern erhöhte zugleich die Staatsausgaben durch die Ausweitung des Militärhaushalts. Damit ist bereits angedeutet, dass „Neoliberalismus“ ein sehr schillernder Begriff ist, der sowohl als politischer Kampfbegriff in öffentlichen Debatten als auch als analytischer Begriff in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (und zusehends auch in der Geschichtswissenschaft) genutzt wird.
Während die ideengeschichtliche Analyse des „Neoliberalismus“ mit seinen transnationalen Netzwerken weit fortgeschritten ist, befindet sich eine innovative und quellengesättigte Historisierung des „Neoliberalismus“ und seiner unterschiedlichen Dimensionen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts noch weitgehend in den Anfängen. Diese Leerstelle greift der Workshop auf, der der Frage nachgeht, ob und inwieweit der „Neoliberalismus“ als Analyseinstrument zur Untersuchung komplexer historischer Prozesse geeignet ist.
Trotz der inflationären Verwendung des Begriffs „Neoliberalismus“ gibt es nur wenige Versuche, ihn exakt für unterschiedliche Felder zu fassen und von anderen zeitgenössischen Vorstellungen (wie Neokonservatismus) abzugrenzen. Gerade diese Möglichkeit, den Begriff in verschiedenen Kontexten variabel einzusetzen, verhalf ihm zu seiner globalen Hegemonie seit Ende der 1980er Jahre – nicht zuletzt mit dem Niedergang des Staatssozialismus und der ökonomischen Modernisierung der ostmitteleuropäischen Staaten. Während in den 1970er Jahren die Geburtsstunde eines negativ konnotierten „Neoliberalismus“-Begriffs schlug, als lateinamerikanische Intellektuelle die marktliberale Deregulierung in Chile kritisierten, avancierte „Neoliberalismus“ in den 1990er Jahren zu einer vielfältigen Bezeichnung für ein breites Bündel ökonomischer Ideen und gesellschaftlicher Entwicklungen.
Der Fokus des Workshops liegt nicht ausschließlich auf der Wirtschaftspolitik, vielmehr adressieren die Beiträge auch andere politische und gesellschaftliche Felder und gehen folgenden Fragen nach.
1. Welche zentralen Ideen standen hinter der Verwendung des „Neoliberalismus“-Begriffs? Inwiefern wurde der Markt als effizienter und anstrebenswerter Verteilungsmechanismus begriffen? Welche Bedeutung hatten Forderungen nach Deregulierung und Privatisierung? Welchen Stellenwert hatte eine Austeritätspolitik, die auf Sparmaßnahmen und den Abbau sozialstaatlicher Leistungen drängte?
2. Welche Personen(-gruppen), Parteien und/oder Institutionen nutzten den Begriff und welche Interessen verfolgten sie? Hierzu gehören sowohl einzelne prominente Persönlichkeiten aus dem politischen oder wissenschaftlichen Feld, die den Diskurs über den „Neoliberalismus“ prägten, als auch Organisationen, die den Begriff diskutierten und verbreiteten.
3. Inwiefern trug die Kritik an neoliberalen Regelungen und Maßnahmen zur Verbreitung des „Neoliberalismus“-Begriffs bei? Kritiker:innen argumentierten, dass der „Neoliberalismus“ zu größerer sozialer Ungleichheit führe, und verwiesen auf die negativen ökologischen Folgen einer Fokussierung auf Wachstum und Gewinnmaximierung. Nicht zuletzt wird die Deregulierung der Finanzmärkte, eine zentrale Forderung neoliberaler Politik, als eine der Ursachen für die Finanzkrise 2008/09 angesehen.
4. In welchem Verhältnis stehen die Begriffe „Neoliberalismus“ und „Globalisierung“ zueinander? Internationale Organisationen wie der IWF oder die WTO förderten neoliberale Reformen, um den Welthandel zu erleichtern und das globale Wirtschaftswachstum zu erhöhen. Zugleich stand der Verbreitung multinationaler Unternehmen und der Ausweitung des globalen Handels eine wachsende Kritik an der Globalisierung entgegen. Hierbei geht es auch darum, die Wandlungsfähigkeit des „Neoliberalismus“ und die Verschmelzung mit anderen ordnungspolitischen Vorstellungen zu untersuchen.
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