Fünf Fragen an…

…Rick Tazelaar

Wie sind Bayerns Ministerien und Behörden nach 1945 mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit umgegangen – welche Brüche und Kontinuitäten prägten den demokratischen Neuanfang? Diese Fragen hat das IfZ im Projekt „Demokratische Kultur und NS-Vergangenheit. Politik, Personal, Prägungen in Bayern 1945-1975“ erforscht. Mit der Monografie „Hüter des Freistaats“ liegt nun die erste Studie über das Führungspersonal der Bayerischen Staatskanzlei vor. Rick Tazelaar untersuchte darin die Karriereverläufe von vier bayerischen Ministerpräsidenten, den jeweiligen Leitern der Staatskanzlei sowie Abteilungs- und Referatsleitern zwischen 1945 und 1962. In unserem Format „Fünf Fragen“ erläutert Rick Tazelaar die zentralen Ergebnisse.

1. In den vergangenen Jahren sind eine ganze Reihe von Untersuchungen über Bundesministerien und zentrale Behörde und deren Umgang mit der NS-Zeit durchgeführt worden. Warum jetzt der Zugriff auf die Landesebene? Was unterscheidet Ihre Studie von der Behördenforschung auf Bundesebene?

Die Länderperspektive ist nach meiner Meinung in der Forschung der letzten Jahre nach den Bundesministerien und weiteren zentralen Behörden zu lange unterbelichtet geblieben. Außerdem behandeln viele Studien die Jahre zwischen 1945 und 1949 nur verkürzt und einseitig. Ja, es waren Jahren der Besatzung und Entnazifizierung, aber auf der Länderebene eben auch des demokratischen Wiederaufbaus. Gerade auf der Länderebene wurde nach dem Krieg die Weichen der zukünftigen Bundesrepublik gestellt. So zeigt meine Studie, wie viele Initiative sich in der Bayerischen Staatskanzlei entfalteten, um auf die zukünftige Gestaltung eines deutschen Nationalstaats Einfluss zu nehmen.
Außerdem bot die Personalpolitik auf der Länderebene einen deutlichen Vorgeschmack für die Praxis der Bundesministerien, auch wenn die personalpolitischen Rahmenbedingungen unterschiedlich waren. So diente die Staatskanzlei als eine willkommene Zwischenstation für ehemalige Beamte aus dem Reichsdienst, bevor sie 1949 zurück in die Bundesverwaltung wechselten. Zudem erreichte die Zahl der ehemaligen NSDAP-Mitglieder in der Staatskanzlei bereits 1950 einen Höhepunkt, als im Deutschen Bundestag noch über ein allgemeines Wiedereinstellungsgesetz für ‚Ehemalige‘ diskutiert wurde.

2. Es heißt ja immer, in Bayern gehen die Uhren anders. Trifft das auch auf die Personalpolitik zu? Gibt es bayerische Besonderheiten im Umgang mit NS-belastetem Personal?

Ja, bayerische Besonderheiten gab es. Die umfangreiche Wiedereinstellung von sogenannten ‚Ehemaligen‘ in der Ministerialverwaltung während der Nachkriegsjahre war freilich kein bayerisches Spezifikum. Nirgendwo sonst in Deutschland war aber nach dem Krieg die Kampfmentalität um die eigene Staatlichkeit so ausgeprägt wie in Bayern. Das hatte Konsequenzen für die Personalpolitik. So fällt auf, dass das Führungspersonal der Staatskanzlei über Memoranda für die Militärregierung versuchte, möglichst viele Beamte als bloß ‚nominell belastet‘ darzustellen, sodass die Ministerialverwaltung Schlüsselpositionen durch hochkompetente Experten mit problematischer Vergangenheit besetzen konnte. Dabei galten Beamte von außen, die nicht der bayerischen Verwaltungstradition entstammten, als eine Gefahr für die Leistungsfähigkeit der Verwaltung. Die bayerischen Behörden stellten lieber von der NS-Zeit belastete Beamte aus Bayern als unbelastete Beamte aus beispielsweise Berlin ein. Aus diesem Grund versuchten die Staatskanzlei und weitere bayerische Ministerien, das sogenannte 131er-Gesetz vom April 1951, wonach ein Großteil der entlassenen NS-belasteten Beamten in Deutschland zurück ins Amt kehren durfte, minimal auszuführen. Nicht wegen der NS-Belastung der betroffenen Beamten, sondern weil sie verhindern wollten, dass nicht-bayerische Beamte en masse in die bayerische Ministerialverwaltung eintreten würden. Außerdem fällt auf, dass die Staatskanzlei direkt nach dem Krieg eine ganze Reihe Beamter aus dem ehemaligen Auswärtigen Amt beschäftigte. Diese Personen wurden strategisch angeworben und sollten mit ihren internationalen Erfahrungen die bayerischen Interessen gegenüber der amerikanischen Militärregierung und den anderen deutschen Ländern durchsetzen.

3. Sie haben in Ihrem Buch eine formale NS-Belastung von bis zu 28 Prozent beim Personal der Staatskanzlei ermittelt. Wie bewerten Sie das im Vergleich zu anderen untersuchten Ministerien oder Behörden?

Für den relativ geringen, jedoch ernst zu nehmenden Anteil von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern am Führungspersonal in der Staatskanzlei gibt es unterschiedliche Gründe. Allerdings gehört dazu nicht, dass die zuständigen Führungspersonen keine NSDAP-Mitglieder einstellen wollten. Vielmehr sollte zunächst gegenüber der amerikanischen Militärregierung den Eindruck vermieden werden, dass ehemalige NSDAP-Mitglieder auf prominenten Positionen in der Staatskanzlei arbeiteten. Gerade die Staatskanzlei war das Aushängeschild des Bayerischen Ministerpräsidenten und die Schaltzentrale für den bayerischen Föderalismus sowie die Geschäfte der bayerischen Staatsregierung. Außerdem war die Staatskanzlei im Vergleich zu den Landes- und Bundesministerien eine relativ kleine Behörde. Um 1949 umfasste das Führungspersonal weniger als 30 Personen, und die Zahl der Gesamtbeschäftigten lag bei etwa 100. Die Behörde konnte Führungspersonen strategisch auswählen und war weniger als beispielweise die Ministerien auf die große Zahl ehemaliger NSDAP-Mitglieder angewiesen. Aus den Studien zu den Bundesministerien wissen wir beispielsweise, dass um 1960 die formale Belastung unter dem Führungspersonal in Bonn in der Regel mindestens bei 50 Prozent lag. Soweit kam es in der Staatskanzlei nicht. Viele Führungspersonen der Staatskanzlei, die zu keinem Zeitpunkt der NSDAP beigetreten waren, blieben darüber hinaus lang im Amt und prägten die Behörde in manchen Fällen sogar von der Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre.

4. Das entscheidende Einstellungskriterium war ja die „formale NS-Belastung“. Sie sind aber in Ihrer Studie auf eine ganze Reihe von Personen gestoßen, die trotz problematischer Biografien in der Leitungsebene der Staatskanzlei beschäftigt wurden. Können Sie uns ein paar Beispiele nennen?

Das stimmt, die Frage nach NS-Belastung richtete sich in der Nachkriegszeit nach formalen Kriterien, insbesondere nach einer NSDAP-Mitgliedschaft. Was Personen während der NS-Zeit genau gemacht hatten, spielte keine Rolle oder wurde als wichtige Verwaltungserfahrung für den Wiederaufbau des bayerischen Staats angesehen. Ein interessantes Beispiel ist der Ministerialbeamte Fritz Baer, der von 1957 bis 1960 und von 1960 bis 1967 Leiter der Staatskanzlei war. Baer war zu keinem Zeitpunkt der NSDAP beigetreten, hatte sich dennoch während der NS-Zeit als Finanzbeamter in Devisenstellen an der finanziellen Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung beteiligt. Es ist umso erstaunlicher, dass er nach dem Krieg kurze Zeit im Bayerischen Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung arbeitete, bevor er 1946 in die Staatskanzlei wechselte. Als Experte für Devisenrecht hatte er sich für die Zielsetzung des NS-Regimes eingesetzt, was jedoch nach dem Krieg nicht als NS-Belastung angesehen wurde.
Außerdem hat sich der Begriff der ‚NS-Belastung‘ in der Nachkriegszeit als ein dynamischer Begriff herausgestellt. Die Vergangenheit von Personen wurde selektiv skandalisiert, wenn das dem politischen Gegner gepasst hat. So griff der Vorsitzende der bayerischen Wiederaufbau-Vereinigung Alfred Loritz 1949 in einer öffentlichen Rede Hans Schwarzmann, den persönlichen Referenten vom Leiter der Staatskanzlei an, weil er unter anderem ‚ein Schwager der Familie Ribbentrop‘ gewesen sei. Loritz wollte damit die politische Glaubwürdigkeit der Staatskanzlei untergraben. Dabei hatte gerade Loritz sich als ehemaliger Entnazifizierungsminister in Bayern für die Entnazifizierung der Mitläufer eingesetzt, in welche Kategorie auch Schwarzmann eingestuft wurde. Allerdings: Schwarzmann war zwar kein Verwandter Joachim von Ribbentrops, hatte jedoch während des Krieges im Büro des NS-Außenministers gearbeitet. Viele Dokumente über die Judenverfolgung in Frankreich waren durch seine Hände gegangen. Somit verfügte er über wichtige Insiderinformationen. Der Leiter der Staatskanzlei, Anton Pfeiffer, fand seinen persönlichen Eindruck von Schwarzmann allerdings wichtiger und sah in dieser Tätigkeit keine NS-Belastung. Trotz des Angriffs blieb Schwarzmann noch bis 1950 Pfeiffers persönlicher Referent, bevor er nach Bonn in die ‚Dienststelle für Auswärtige Angelegenheiten‘ im Bundeskanzleramt wechselte.

5. Zu guter Letzt: Was hatte es mit dem "Lokuszimmer" in der Staatskanzlei auf sich?

Das sogenannte Lokuszimmer wurde 1966 in einem Artikel in der „Zeit“ erwähnt. Es soll sich dabei um ein verstecktes Zimmer im Gebäude der Staatskanzlei in der Prinzregentenstraße 7 gehandelt haben, in dem in der direkten Nachkriegszeit ‚nominell‘ belastete Beamte beschäftigt wurden, weil sie noch nicht entnazifiziert waren. Damit umging die Staatskanzlei die offizielle Entnazifizierungs- und Wiedereinstellungspolitik. Das prominenteste Beispiel soll das CSU-Mitglied Karl Schwend gewesen sein, der 1950 die Leitung der Staatskanzlei von Anton Pfeiffer übernahm und als einer der wichtigsten Berater des Ministerpräsidenten Hans Ehard galt. Ob Schwend und weitere Beamte hier beschäftigt wurden, so wie die „Zeit“ behauptete, geht aus den Archivakten nicht hervor. Tatsache ist aber, dass das Zimmer existierte und sich in einem Sonderbereich zwischen dem ersten und zweiten Stock befand, das nur durch eine Art Einlaufschrank und steile Wendeltreppe erreichbar war. Außerdem steht fest, dass Schwend bereits vor seiner Entnazifizierung im Mai 1947 als föderalistischer „Hausideologe“ für die Staatskanzlei tätig war.

Rick Tazelaar

Hüter des Freistaats. Das Führungspersonal der Bayerischen Staatskanzlei zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegsdemokratie

De Gruyter, Berlin 2023

ISBN: 978-3-11-127729-5

Der Autor

Rick Tazelaar studierte in Utrecht, Amsterdam und Jena Geschichte, Philosophie, Deutschlandstudien und Politikwissenschaften. Von 2016 bis 2020 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte und verfasste dort seine Dissertation über die Personalpolitik der bayerischen Staatskanzlei. Derzeit ist Rick Tazelaar University Lecturer für Internationale Beziehungen an der Universität Utrecht.



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