Diskussion über das Ghettorenten-Gesetz

Das so genannte Ghettorentengesetz lieferte jahrelang Anstoß für erbitterte juristische Auseinandersetzungen. Die historische Realität der nationalsozialistischen Ghettos schien nicht mit der Logik der deutschen Sozialgerichtsbarkeit kompatibel. Stattdessen offenbarte das Tauziehen zwischen Opfern, Rentenversicherern und deutschen Gerichten ein schmerzhaftes Unvermögen, sich über eine zentrale Frage des Holocaust zu verständigen. Mit einer Podiumsdiskussion versuchte das Institut für Zeitgeschichte, die verschiedenen Sichtweisen  nachzuzeichnen.

 

Moderiert von Dr. Jürgen Zarusky, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte und selbst vielfach Gutachter in Ghettorentenprozessen, lieferten sich Andreas Knipping, Richter am Sozialgericht München, Dr. Martin Kühl, Richter am Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Dr. Stephan Lehnstaedt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Warschau und Dr. Kristin Platt, die Stellvertretende Leiterin des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum eine kontroverse Debatte.

 

Jürgen Zarusky hatte dazu zunächst den Stein des Anstoßes noch einmal skizziert: Das Ghettorentengesetz war im Jahr 2002 einstimmig vom Bundestag verabschiedet worden, um damit eine „Lücke in der Wiedergutmachung“ zu schließen. Das Ziel: Holocaust-Überlebende, die während der nationalsozialistischen Judenverfolgung in einem Ghetto gearbeitet hatten, sollten dafür Rentenansprüche anmelden können. Das Gesetz folgte damit einer zentralen Gerichtsentscheidung von 1997, bei der einer Näherin aus dem Ghetto Litzmannstadt Rente für ihre Arbeit zugesprochen worden war.

 

Doch was als Wiedergutmachung intendiert war, erwies sich in der Praxis als Anlass für eine drastische Klagewelle: Aufgrund der rigiden Haltung der Rentenversicherer mussten tausende von Holocaust-Überlebenden ihren Anspruch vor Gericht einklagen, sahen sich dort aber ebenfalls in der Mehrzahl der Fälle mit einer Ablehnung konfrontiert. Warum dauerte es bis zu einer bemerkenswerten Kehrtwende des Bundessozialgerichts im Jahr 2009, bis die Gerichte tatsächlich die Realität in Ghettos zur Richtschnur ihrer Entscheidungen machten und die vielfach bereits hochbetagten Holocaust-Opfern doch noch entschädigt werden konnten?

 

Nach Auffassung der beiden Juristen auf dem Podium lag es an handwerklichen Fehlern des Gesetzgebers. So habe die Politik nur sehr dürre Begriffe für die Praxis geliefert und das Gesetz habe in seiner sozialversicherungsrechtlichen Logik den Gerichten kaum eine andere Wahl gelassen, als es strikt auszulegen, beschrieb Andreas Knipping sein Dilemma als Richter. „Ein gesetzgeberischer GAU“, so auch der Vorwurf von Martin Kühl. Gänzlich anderer Auffassung zeigte sich Kristin Platt: Wäre das Gesetz tatsächlich der Grund gewesen, so hätte sich dies doch in den Urteilsbegründungen wiederfinden müssen. Stattdessen aber sei immer wieder auf die mangelnde Fähigkeit der Betroffenen verwiesen worden, ihre Ansprüche glaubhaft zu machen. „Die Urteile waren sehr standardisiert.“ Insbesondere hätten es die Gerichte lange Zeit versäumt, sich historischen Sachverstand einzuholen und sich die komplexe Realität in einem Ghetto zu vergegenwärtigen, kritisierte Stephan Lehnstaedt.

 

Die aktuelle Podiumsdiskussion war nicht die erste Veranstaltung des Instituts für Zeitgeschichte zur Problematik der Ghettorenten: Schon im April 2008 hatte das IfZ eine zweitägige Konferenz initiiert, bei der Vertreterinnen und Vertreter der Justiz, der Rentenversicherungen und von Opferverbänden zusammen mit Historikerinnen und Historikern die Thematik, insbesondere auch den Stellenwert fachhistorischer Recherchen für die Urteilsbildung über Ghettoarbeitsverhältnisse eingehend diskutierten. Maßgeblich im Auftrag des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen hatten Historiker des IfZ darüber hinaus wissenschaftliche Gutachten im Gesamtumfang von weit über 500 Seiten geliefert und an gerichtlichen Anhörungen in Deutschland und Israel teilgenommen. Viele Erkenntnisse der Arbeit des IfZ waren schließlich auch in die Kehrtwende des Bundessozialgerichts vom Juni 2009 eingeflossen.



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