The Holocaust and European Societies.

Internationale Konferenz des Zentrums für Holocauststudien vom 23. bis 25. November 2014

 

 

Der Genozid an den europäischen Juden war nicht nur ein politischer, sondern auch ein gesellschaftlicher Prozess, an dem die Bevölkerung auf unterschiedliche Art partizipierte. Wer waren jedoch die gesellschaftlichen Akteure, die eine Rolle bei der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden spielten? Welchen Stellenwert spielten materielle Motive für die Partizipation an der Judenverfolgung, aber auch bei der Entscheidung, Juden im Untergrund zu helfen? Und welche sozialen Dynamiken und Veränderungen beeinflussten die Verfolgung und den Massenmord an der jüdischen Bevölkerung in Deutschland, in den mit dem nationalsozialistischen Deutschland verbündeten Ländern und in den besetzten Gebieten? Mit diesen Fragen beschäftigten sich mehr als dreißig, zumeist jüngere Holocaust-Forscher aus insgesamt vierzehn Ländern auf der internationalen Konferenz des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München. Sie präsentierten aus aktuellen und meist noch nicht abgeschlossenen Projekten Fallbeispiele, die geographisch von Finnland über Rumänien bis nach Kreta reichten. Im Fokus der Konferenz standen dabei die europäischen Gesellschaften in Mittel- und Osteuropa, wo sämtliche Prozesse nicht zuletzt durch die deutsche Besatzungsherrschaft beeinflusst wurden.


Nach den Begrüßungen durch Andreas Wirsching (Direktor des IfZ) und Dan Shaham (Generalkonsul der israelischen Botschaft in München), folgte die inhaltliche Einführung durch FRANK BAJOHR (Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien). Er plädierte dafür, dass man die Akteure des Holocaust in Europa nicht auf die Trias „Täter-Opfer-bystander“ reduzieren solle; vielmehr müsse man den Blick auf die Vielfalt gesellschaftlicher Handlungsweisen richten: Weite Teile der europäischen Gesellschaften waren auf unterschiedliche Weise am sozialen Prozess der Ausgrenzung beteiligt. Gerade die Alltagsgeschichte biete hier einen analytischen Zugang, um die Beteiligung der Bevölkerung zu analysieren und zu kontextualisieren.  Bajohr wies auf die Notwendigkeit hin, bei der Betrachtung der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden sowohl die Mikro- als auch die Makroperspektive zu nutzen:  Beide würden sich ergänzen und es ermöglichen, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Phänomene und sozialen Verhaltensmuster genauer untersuchen zu können. Im ersten Panel „Das Deutsche Reich nach 1933“ beleuchteten ANNA ULLRICH, FROUKJE DEMANT, STEFANIE FISCHER und SUSANNA SCHRAFSTETTER das Verhalten von Institutionen und Personen - Helfern, Zuschauern und Profiteuren-, aber auch die Motive und Handlungssituationen jener, die Juden halfen. Sie sprachen unter anderem über jüdische Bewältigungsstrategien in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft, Fluchtmöglichkeiten von Juden vor ihrer drohenden Deportation oder auch über die Erfahrungen von Juden und Nicht-Juden in der deutsch-niederländischen Grenzregion. Am nächsten Tag standen zunächst Einzelstudien zu Mittel- und Osteuropa im Fokus. OLGA BARANOVA, NADÈGE RAGARU, ANTON WEISS-WENDT und BARBARA HUTZELMANN warfen einen alltagsnahen Blick auf die mit der Entrechtung, Enteignung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung verbundenen gesellschaftlichen Prozesse in Weißrussland, Mazedonien, Estland und der Slowakei, die zugleich eng mit dem Alltag der Besatzungsherrschaft vor Ort verknüpft waren.


In dem sich anschließenden Panel zu der Rolle den Polizeieinheiten und Kollaborationen vor Ort referierte YANNIS SKALIDAKIS über die Rolle der lokalen Machthaber auf Kreta, TOM FRYDEL über die polnisch-jüdischen Beziehungen im Generalgouvernement und YURI RADCHENKO über die ukrainische Hilfspolizei. Hier verdeutlichten sie, dass die Kategorie des „bystanders“ mit Bedacht anzuwenden und dass die mit dem Stempel des Verrats behaftete Bezeichnung „Kollaboration“ mit zahlreichen Problemen konnotiert und somit wenig geeignet ist, gesellschaftliches Handeln im Holocaust zu analysieren. Im Folgenden setzten sich KIRIL FEFERMAN, LINDA MARGITTAI und LEONID REIN mit Eigentum und Enteignung der jüdischen Bevölkerung in der besetzten Sowjetunion, Weissrussland und in Ungarn auseinander. Sie gingen in ihren Vorträgen sowohl auf die rassistisch begründete Hierarchie und implementierten antisemitischen Normen in diesen Ländern durch die Nationalsozialisten ein und skizzierten deren dramatische Auswirkungen auf die Juden, ausgelöst durch Verlust ihres Besitzes und ihres gesellschaftlichen Status.


Mit sozialwissenschaftlichen Fragestellungen zu jüdischen Zwangsgemeinschaften beschäftigten sich ELISABETH PÖNISCH in ihrem Vortrag zu den sogenannten „Judenhäusern“ im Deutschen Reich und JUSTYNA MAJEWSKA zu den sozialen Transformationen innerhalb des Warschauer Gettos. Beider Referentinnen wiesen mit ihren Forschungsansätzen besonders auf die fließenden Transformationen innerhalb der europäischen Gesellschaften während des Holocaust hin.

 


Die Perspektive der verfolgten Juden stand auch im Fokus zu Beginn des letzten Konferenztages, in dem Handlungsspielräumen und Rollen der jüdischen Führung und der sogenannten „Judenräten“ diskutiert wurden. Teile der jüdischen Bevölkerung kooperierten mit der deutschen Besatzungsmacht, oft wurde ihnen dies jedoch aufgezwungen. Diese Form der Kooperation wurde durch die Bildung der „Judenräte“ institutionalisiert. AGNIESZKA ZAJACKOWSKA-DROZDZ diskutierte die Rolle des Krakauer Judenrats und KATJA HAPPE die des Judenrats in Amsterdam. Einen interessanten Einblick in ein bislang nahezu unbeachtetes Forschungsfeld bot außerdem SIMO MUIR, der den Teilnehmern Überlebensstrategien finnischer Juden und die Rolle der dortigen jüdischen Führung näher brachte. Insgesamt musste die jüdischen Repräsentanten, wie in diesem Panel deutlich wurde, unter starken Einschränkungen agieren, ihre Organisationen waren aufgelöst und Netzwerke zerbrochen, Eigentum und sozialen Ressourcen wurden ihnen entzogen und von Informationen und gewohnte Kommunikationswegen waren sie abgeschnitten. Um mangelnde Solidarität und Plünderung jüdischen Eigentums ging es auch in den folgenden Vorträgen, die sich mit den Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden auf lokaler Ebene befassten. Dass der Prozess der Ausgrenzung, Entrechtung und Enteignung der Juden in Europa nicht ohne eine immense Anzahl an Akteuren möglich gewesen wäre, zeigten NATALIA ALEKSIUN anhand ihrer Fallstudie zu Ostgalizien und DIANA DUMITRU zu Teilen Rumäniens. AGNIESZKA WIERZCHOLSKA stellte in diesem Kontext ihre Mikro-Studie zu Tarnów vor und IZABELLA SULYOK die Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden in Ungarn.


In seinen resümierenden Schlussbetrachtungen wies DIETER POHL (Klagenfurt) auf die enorme Perspektiverweiterung der Holocaustforschung hin, die auf dieser Konferenz deutlich geworden sei. Er ging auf die Vorträge über unterschiedliche Verhaltensmuster gegenüber der verfolgten jüdischen Bevölkerung ein und betonte, dass die deutsche Gewalt- und Terrorherrschaft neue soziale Beziehungen schuf, an die sich die betroffenen Bevölkerungen zunächst anpassen mussten, dann aber auch antisemitische Normen und rassistische Hierarchien in weiten Teilen eigenständig implementierten. Hier wies er auf bemerkenswerten Ähnlichkeiten, trotz sehr unterschiedlichen regionalen Bedingungen, hin. Pohl plädierte dafür,  über die Einteilung in Täter und Opfer hinaus, Kontinuitäten und Brüche auf lokaler und nationaler Ebene in der Geschichte der europäischen Gesellschaften zu untersuchen und diese dann in einen allgemeinen Kontext der Holocaustgeschichte einzubetten. Weitere Forschungsperspektiven zu den sozialen Prozessen und Dynamiken in der Zeit des Holocaust in Europa hatten zuvor bereits die Kommentatoren, unter ihnen Michael Wildt, Alan Steinweis, Christoph Dieckmann, Jürgen Zarusky, Andrea Löw oder Ingo Loose aufgezeigt. Die Konferenz hat demonstriert, wie komplex die gesellschaftlichen Prozesse und Interaktionen in Europa während des Holocaust waren und wie wenig hilfreich eindeutige Kategorisierungen in der Analyse sind. Je nach Situation und Zeitpunkt, konnte jede Person Opfer, Täter und „bystander“ zugleich sein. Auch machten zahlreiche Beiträge deutlich, dass die sozialen Dynamiken unter der Besatzung nur sehr bedingt ohne einen Blick auf die jeweilige Situation vor 1939 und den weiteren Kontext von Krieg und Besatzung zu verstehen ist. Für viele Regionen und Fragestellungen steht die Holocaustforschung hier erst am Anfang; die internationale Konferenz gelang es jedoch, wichtige Perspektiven künftiger Forschungen aufzuzeigen.

 

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